D. Lawrence - Der Zigeuner und die Jungfrau

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"Der Zigeuner und die Jungfrau" handelt von zwei Schwestern, den Töchtern eines anglikanischen Vikars. Die beiden kehren von der Schule in ein tristes Leben zurück, nicht lange nach dem Ersten Weltkrieg. Einmal begegnet Yvette einem Zigeuner und seiner Familie. Doch als ihr Vater von dieser Freundschaft erfährt, lehnt er sie ab. Im Laufe des Romans verändern sich Yvettes Gefühle und ihr Verständnis für das Leben.
Diese Sammlung umfasst auch die Novellen:
Die Tochter des Pferdehändlers
Die Hauptmanns-Puppe
Zwei blaue Vögel
Lächeln

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D. H. Lawrence

Der Zigeuner und die Jungfrau

Translator: Karl Lerbs

e-artnow, 2022

Kontakt: info@e-artnow.org

EAN 4066338122681

Inhaltsverzeichnis

Der Zigeuner und die Jungfrau Der Zigeuner und die Jungfrau Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Die Tochter des Pferdehändlers D. H. Lawrence

Die Hauptmanns-Puppe D. H. Lawrence

Zwei blaue Vögel D. H. Lawrence

Lächeln D. H. Lawrence

Der Zigeuner und die Jungfrau

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Der Zigeuner und die Jungfrau Der Zigeuner und die Jungfrau Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Die Tochter des Pferdehändlers D. H. Lawrence Die Hauptmanns-Puppe D. H. Lawrence Zwei blaue Vögel D. H. Lawrence Lächeln D. H. Lawrence

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Inhaltsverzeichnis

Als die Frau des Vikars mit einem jungen Habenichts durchbrannte, gab es eine Entrüstung ohne Grenzen. Ihre beiden kleinen Mädchen waren doch erst sieben und neun Jahre alt. Und der Vikar war ihr ein so guter Mann. Gewiß, er hatte graues Haar. Aber sein Schnurrbart war noch schwarz, er sah gut aus, und er war seiner leidenschaftlichen und schönen jungen Frau mit stummer Glut zugetan.

Warum ging sie davon? Warum brannte sie mit einer derartig aufregenden Plötzlichkeit durch, als hätte sie den Verstand verloren?

Niemand wußte die Frage zu beantworten. Bis auf die Frommen: die sagten, sie wäre eine Verworfene. Ein paar von den guten, also nicht verworfenen Ehefrauen schwiegen dazu. Sie kannten den Grund.

Die beiden kleinen Mädchen erfuhren ihn nie. Sie waren tief getroffen und kamen zu dem Schluß, daß ihre Mutter sich nichts aus ihnen gemacht habe.

Der böse Wind, der noch niemals Irgendwem etwas Gutes zugeblasen hat, fegte die Vikarsfamilie mit schlimmem Stoß hinweg. Aber man sehe und staune: Da bekommt der Vikar, der sich mit einiger Auszeichnung durch Aufsätze und Streitschriften hervorgetan hat und der sich durch sein Schicksal das Mitgefühl der Gelahrten erwarb, die Pfarre in Papplewick. Der Herr hat ihn gnädigen Sinnes vor dem Unheilswind in eine Pfarre im Norden gerettet.

Das Pfarrhaus war ein ziemlich häßliches Steingebäude; man sieht es, bevor man ins Dorf kommt, am Ufer der Papple liegen. Weiterhin, nachdem die Straße den Fluß gekreuzt hat, kommt man an die Steingebäude der alten Baumwollspinnereien, die sich früher ihre Antriebskraft aus dem Wasser holten. Dann schwingt sich die Straße hügelan, in die kahlen Steinstraßen des Dorfes.

Für die Vikarsfamilie bedeutete die Verpflanzung in die Pfarrstelle eine gründliche Veränderung. Der Vikar – oder vielmehr jetzt: der Pfarrherr – holte sich seine alte Mutter, seine Schwester und auch einen seiner Brüder aus der Stadt herbei. Die beiden kleinen Mädchen lebten nun in einer ganz anderen Umwelt als früher.

Der Pfarrer war zu dieser Zeit siebenundvierzig Jahre alt; er hatte sich nach der Flucht seiner Frau einem heftigen und nicht eben durch Würde gehemmten Kummer hingegeben. Mitfühlende Damen hatten ihn vom Selbstmord zurückgehalten. Sein Haar war nun fast weiß, und er blickte aus wilden Augen mit tragischem Ausdruck um sich. Man brauchte ihn nur anzusehen, so wußte man gleich, wie furchtbar das alles war und wie schlimm das Geschick ihm mitgespielt hatte.

Und doch war da irgendein falscher Ton in dem Ganzen. Und einige gerade von den Damen, deren Mitgefühl mit dem Vikar am tiefsten gewesen war, hatten gegen den Pfarrer so etwas wie eine heimliche Abneigung. Es war, wenn man ihn einmal recht besah, ein Zug versteckter Selbstgerechtigkeit in seinem Wesen.

Die kleinen Mädchen machten sich natürlich, in der noch unbewußten Art von Kindern, das in der Familie geltende Urteil zu eigen. ›Großmuttchen‹, die über Siebzig war und nicht mehr gut sah, spielte die Hauptrolle im Hause. Tante Cissie führte den Haushalt: über Vierzig, blaß, fromm, von einem verborgenen Leiden innerlich zernagt. Blieb noch Onkel Fred, ein kümmerlicher, graugesichtiger Mann von vierzig Jahren, der schmuddlig für sich hinlebte und jeden Tag zur Stadt fuhr. Nun, und der Pfarrer war natürlich die Hauptperson – nächst Großmuttchen.

Großmuttchen wurde ›Mater‹ angeredet. Sie gehörte zu den grobschlächtigen, gerissenen alten Haudegen, die ihr Leben lang ihren Willen kriegen, weil sie den Schwächen ihres Mannsvolks Butter aufs Brot zu schmieren verstehen. Und sie wußte sofort, wie das Ding anzufassen war. Der Pfarrer ›liebte‹ die Pflichtvergessene noch immer und würde sie lieben bis ans Grab. Also – psst: heilig war des Pfarrers Gefühl. In seinem Herzen beschlossen wie in einem Schrein war das reine Geschöpf, das er umworben und angebetet hatte.

Durch die böse Welt da draußen wanderte währenddessen eine mit Schande bedeckte Frau, die den Pfarrer betrogen und ihre kleinen Kinder verlassen hatte. Sie war nun an einen jungen und niederträchtigen Mann gefesselt, und er würde ihr ganz gewiß die Erniedrigung antun, die sie verdiente. Dies war mit aller Deutlichkeit klarzumachen, und dann – psst! Denn in der erhabenen Reinheit des pfarrherrlichen Herzens blühte noch immer im reinen Weiß eines Schneeglöckchens das Bild seiner jungen Braut. Das weiße Schneeglöckchen welkte nicht. Jenes andere Geschöpf, das mit dem niederträchtigen jungen Manne durchgebrannt war, hatte nichts damit gemein.

Also bestieg die Mater, die als Witwe in einem kleinen Hause ein bißchen an Würde und Bedeutung verloren hatte, ihren Thron im beherrschenden Lehnstuhl des Pfarrhauses und pflanzte ihren massigen alten Leib wieder fest in den Boden. Sie würde sich nicht wieder entthronen lassen. Listig weihte sie der pfarrherrlichen Treue für das weiße Schneeglöckchen einen ehrfürchtigen Seufzer, während sie Mißbilligung dafür heuchelte. Mit listig betonter Ehrfurcht vor der großen Liebe ihres Sohnes unterdrückte sie jedes abfällige Wort gegen die Nessel, die jetzt draußen in der bösen Welt wucherte und einst den Namen Mrs. Arthur Saywell geführt hatte. Da sie sich wieder verheiratet hatte, hieß sie jetzt, Gott sei Dank! nicht mehr Mrs. Arthur Saywell. Keine Frau trug den Namen des Pfarrherrn. Das reine weiße Schneeglöckchen blühte in perpetuum, ohne Benennung. Und in den Gedanken der Familie lebte es als ›sie, die einst Cynthia war‹.

Das alles war Wasser auf die Mühle der Mater. Es sicherte sie gegen die Gefahr, daß Arthur sich wieder verheiratete. Sie gängelte ihn an der schwächsten aller Schwächen: an seiner heimlichen Eigenliebe. Er hatte ein unvergängliches weißes Schneeglöckchen geheiratet. Der Glückliche! Ihm war Leid geschehen. Der Arme! Er hatte gelitten. Aber ach, welch ein wahrhaft liebendes Herz! Und er hatte – verziehen! Ja, dem weißen Schneeglöckchen war verziehen worden. Er hatte der Ungetreuen sogar in seinem letzten Willen gedacht, für den Fall, daß der Andere, der Schurke, einmal – – Aber psst! Nicht einmal in Gedanken sollte man der Nessel da draußen in der verderbten Welt zu nahe kommen! ›Sie, die einst Cynthia war.‹ In unzugänglicher Höhe soll das weiße Schneeglöckchen auf dem Gipfel der Vergangenheit blühen. Die Gegenwart steht auf einem anderen Blatt.

In dieser Luft, gemischt aus Gerissenheit, Selbstheiligung und bewußtem Verschweigen, wuchsen die Kinder auf. Auch sie sahen das Schneeglöckchen auf unzugänglicher Höhe blühen. Auch sie wußten, daß es in einsamem Glanze über ihrem Leben thronte, auf ewig unberührbar.

Dennoch drang zuweilen aus der unreinen Welt ein böser Pesthauch von Selbstsucht und verderbter Lust herein: der Hauch von jener Nessel, von ›ihr, die einst Cynthia war‹. Die Nessel brachte es tatsächlich fertig, von den beiden kleinen Mädchen, ihren Töchtern, dann und wann ein Briefchen zu ergattern. Und die silberhaarige Mater bebte insgeheim vor Wut. Denn wenn ›sie, die einst Cynthia war‹, jemals wiederkam, dann würde von ihr, der Mater, nicht viel übrig bleiben, das wußte sie. Ein heimlicher Strom des Hasses ging von der Großmutter aus und traf die beiden Mädchen: Waren sie doch die Kinder jener geil wuchernden Nessel, jener Cynthia, die der Mater mit so leidenschaftlicher Verachtung begegnet war.

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