Die Straße war schmal. Leo ließ heftig die Hupe dröhnen. Der Mann auf dem Wagen sah sich um; die Frau trottete stetig und rasch weiter, ohne auch nur den Kopf zu wenden.
Yvettes Herz tat einen Sprung. Der Mann auf dem Wagen war ein Zigeuner: einer von der schwarzen, ganz und gar unbekümmerten, hübschen Art. Er blieb auf seinem Karren sitzen, wandte sich und starrte unter dem Schirm seiner Mütze hervor die Insassen des Autos an. Seine Haltung war nachlässig, sein Blick unverschämt in seiner Gleichgültigkeit. Unter seiner schmalen, geraden Nase wuchs ein dünner schwarzer Schnurrbart; um den Hals trug er ein großes rot und gelb gemustertes seidenes Taschentuch. Jetzt sagte er ein Wort zu der Frau. Sie blieb eine Sekunde lang stehen, auf stämmigen Beinen, um sich umzudrehen und die Insassen des Wagens zu betrachten, der nun ganz dicht herangekommen war. Leo ließ abermals die Hupe dröhnen, mit gebieterischem Nachdruck. Die Frau, die ein grau und weiß gestreiftes Tuch um den Kopf geschlungen trug, wandte sich mit einer entschiedenen Schwankung, um wieder mit dem Karren Schritt zu halten; der Lenker hatte sich, auch er, wieder zurechtgerückt und hob die Zügel an, mit einer Bewegung seiner locker gehaltenen schmalen Schultern. Aber er wich nicht von der Straße.
Leo ließ die Hupe brüllen, indessen er auf die Bremse trat und der Wagen dicht hinter dem Karren seinen Lauf verlangsamte. Bei dem Lärm wandte sich der Zigeuner und sagte etwas, das sie nicht hören konnten; sein dunkles Gesicht unter der dunkelgrünen Mütze lachte, die weißen Zähne unter dem schmalen schwarzen Schnurrbart blitzten, und er machte eine Bewegung mit der dunklen lässigen Hand.
»Geht doch gefälligst aus dem Wege!« brüllte Leo.
Statt jeder Antwort brachte der Mann das Pferd, das nach dem Straßenrand zu ausbog, mit kundigem Griff zum Stehen. Es war ein tüchtiger Rotschimmel und ein tüchtiger, nett aussehender, dunkelgrün gestrichener Karren.
Der wütende Leo mußte durchbremsen und ebenfalls anhalten.
»Wollen die hübschen jungen Damen nicht ihre Zukunft hören?« fragte der Zigeuner auf dem Karren, und sein ganzes Gesicht lachte – nur die schwarzen aufmerksamen Augen nicht, die von Einem zum Andern wanderten und auf Yvettes zartem jungen Gesicht verweilten.
Eine Sekunde lang begegnete sie den schwarzen Augen: ihrem ganz unverhüllten Suchen, ihrer Unverschämtheit; ihrer vollkommenen Gleichgültigkeit gegen Leute wie Bob und Leo; und ein Feuer sprang auf in ihrer Brust. Sie dachte: »Er ist stärker als ich! Ihm ist alles gleich.«
»Oh ja! ja!« rief Lucille sofort.
»Oh ja!« stimmten die anderen Mädchen ein.
»Na hört mal! Wie lange soll denn das nun wieder dauern?« rief Leo.
»Dauern – ! Dauern – ! Irgendwer muß einem doch immer die Uhr unter die Nase halten!« rief Lucille.
»Na, also wenn es euch egal ist, wann wir nach Hause kommen – mir ist es nicht egal!« sagte Leo heldenhaft.
Der Zigeuner hatte mittlerweile lässig seitwärts auf seinem Karren gesessen und aufmerksam die Gesichter betrachtet. Nun sprang er von der Deichsel herab, mit etwas steifen Knieen. Er mochte etwas über dreißig Jahre alt sein und war gewiß nach den Begriffen seines Volkes ein schöner Mann. Er trug eine Art von Joppe, zweireihig, aus dunkelgrün und schwarz gestreiftem Fries, die nur bis zu den Hüften reichte; ziemlich enge schwarze Hosen, schwarze Stiefel und eine dunkelgrüne Kappe; dazu das breite rot und gelb gestreifte Halstuch. Sein ganzer zigeunerhafter Aufzug wirkte sonderbar elegant und war auch wohl verhältnismäßig kostspielig. Auch sah er hübsch aus, wie er jetzt mit dem ererbten Dünkel der Zigeuner das Kinn an den Kragen preßte und für die Fremden scheinbar keinen Blick mehr hatte, während er seinen guten Rotschimmel von der Straße führte, um den Karren zurückzusetzen.
Erst jetzt sahen die Mädchen, daß hier zur Seite der Straße eine tiefe Einbuchtung war, und daß zwei rauchende Wohnwagen dastanden. Yvette stieg rasch aus. Sie waren plötzlich an einen stillgelegten Steinbruch gekommen, der in den Felshang an der Straßenflanke geschnitten war; und auf diesem unvermittelt aufgetauchten Lagerplatz, der fast wie eine Höhle wirkte, standen drei für den Winter außer Betrieb gesetzte Wohnwagen. Ganz im Hintergrunde war auch eine aus Zweigen gebaute Hütte, die als Stallung für das Pferd diente. Der graue, grobe Felsen hob sich hoch über die Wagen empor und schwang sich im Bogen der Straße zu. Der Boden bestand aus geschichteten Steintrümmern, zwischen denen Gras wuchs. Es war ein wohlgeborgenes, behagliches Winterlager.
Die ältliche Frau mit dem Sack auf dem Rücken war in einen der Wagen gegangen und hatte die Tür hinter sich offen gelassen. Zwei Kinder schoben ihre schwarzen Köpfe durch die Tür und gafften herüber. Der Zigeuner stieß einen kurzen Ruf aus, während er den Karren rückwärts in den Steinbruch schob; worauf ein älterer Mann herauskam, um ihm beim Ausspannen zu helfen.
Nun ging der Zigeuner zu dem am neuesten aussehenden Wohnwagen, dessen Tür geschlossen war, und stieg die Stufen hinan. Ein unter dem Wagen angeketteter Hund bellte. Es war ein weißer, mit leberfarbenen Flecken gesprenkelter Jagdhund. Er stieß ein leises Knurren aus, als Leo und Bob herankamen.
Im gleichen Augenblick erschien in der Tür dieses Wagens eine dunkelhäutige Zigeunerin, die ein hellrotes Tuch um den Kopf und große goldene Ohrringe trug; ihr gefalbelter weiter grüner Rock schwang um ihre Beine, als sie die Stufen herabkam. Ihr kühnes, dunkles, längliches Gesicht war in seiner Art hübsch, wenngleich etwas darin an einen Wolf gemahnte. Man mußte an die kühnen umherziehenden Zigeuner Spaniens denken.
»Guten Morgen, meine Damen und meine Herren«, sagte sie und betrachtete die Mädchen mit ihren kühnen, gierigen Augen. Sie sprach mit der leichten Ungelenkheit fremden Beiklangs.
»Guten Abend!« sagte die Mädchen.
»Welche von den schönen kleinen Damen möchte hören ihre Zukunft? Muß mir dann geben ihre kleine Hand.«
Sie war hochgewachsen, und ihre Art, den Kopf vorzustrecken, hatte etwas Erschreckendes, wie eine Drohung. Ihre Augen wanderten vom einen Gesicht zum andern, sehr lebhaft, mit einem grausamen Forschen, das erspähte, was sie wissen wollte. Jetzt erschien der Zigeuner, offenbar ihr Mann, wieder oben an der Treppe; er rauchte eine Pfeife und hielt ein kleines schwarzhaariges Kind im Arm. So stand er da auf seinen geschmeidigen Beinen und sah sozusagen beiläufig, wie aus einer Ferne, auf die Gruppe herab: wobei er seine langen schwarzen Wimpern von seinen großen hochmütigen unverschämten schwarzen Augen hob. Sein Blick hatte etwas seltsam Durchdringendes. Yvette fühlte es, fühlte es in den Kniegelenken. Sie tat, als beschäftigte sie sich mit dem weißen gelbgefleckten Hund.
»Wieviel verlangen Sie, wenn wir alle uns wahrsagen lassen?« fragte Lottie Framley. Die sechs jungen Christen mit den frischen Gesichtern hielten sich mit deutlichem Zögern von der heidnischen Frau aus geächteter Rasse fern. »Alle miteinander? Damen und Herren – alle?« fragte die Frau mit listigem Blick.
»Nee, ich danke! Macht ihr, was ihr wollt!« rief Leo.
»Ich danke auch«, sagte Bob. »Also – ihr vier Mädels.«
»Die vier Damen?« sagte die Zigeunerin und ließ ihren listigen Blick von einer zur anderen wandern, nachdem sie Bob und Leo gemustert hatte. Und sie war sich schlüssig über ihren Preis. »Jede soll mir geben einen Schieling– und ein bißchen drauf für Glück? ein bißchen drauf!« Sie lächelte auf eine Art, die mehr wolfhaft gierig als schmeichlerisch war, und unter der samtenen Weichheit ihrer Worte war die harte Kraft ihres eisernen Willens spürbar.
»In Ordnung«, sagte Leo. »Einen Schilling pro Kopf. Aber machen Sie's ein bißchen kurz, ja?«
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