In diesem Raum versammelte sich die Familie. Abends, nach dem Essen, pflegten der Pfarrer und Onkel Fred mit Großmuttchen unweigerlich Kreuzworträtsel zu lösen.
»Na, Mater, bist du so weit? N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein siamesischer Beamter.«
»Wie? Was? M Punkt Punkt Punkt W?«
Großmuttchen war schwerhörig.
»Nein, Mater. Nicht M! N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein siamesischer Beamter.«
»N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein chinesischer Beamter.«
»– siamesisch .«
»Wie –?«
» Siamesisch! Siam !«
»– ein siamesischer Beamter! Was kann das wohl sein?« sagte die alte Dame tiefsinnig und faltete die Hände über dem rundlichen Bauch. Die beiden Söhne stellten Vermutungen an, und die alte Dame sagte »Aha! aha!« dazu. Der Pfarrer war erstaunlich findig beim Lösen von Kreuzworträtseln. Fred aber verfügte über einen gewissen technischen Wortschatz.
»Das ist aber mal eine harte Nuß«, sagte die alte Dame, wenn sie sämtlich nicht weiter wußten.
Lucille saß derweil in einer Ecke, hielt sich die Ohren zu und tat, als läse sie; Yvette arbeitete mit verärgertem Gesicht über ihrem Zeichenblock oder summte laute und herausfordernde Melodieen, um so zum Familienkonzert beizutragen. Tante Cissie holte sich Schokolade aus der Schachtel, ein Stück nach dem anderen, ihre Kinnladen arbeiteten pausenlos. Sie lebte buchstäblich von Schokolade. Sie saß abseits, schob ein neues Stück in den Mund und sah dann wieder in die Kirchenzeitschrift. Schließlich hob sie den Kopf und stellte fest, daß es Zeit war, für Großmuttchen die abendliche Tasse Horlicks zu holen.
Sobald sie draußen war, öffnete die nervöse Yvette mit einer erbitterten Bewegung das Fenster. Die Luft im Zimmer war niemals frisch, und Yvette meinte immer einen Geruch zu spüren: es roch nach Großmuttchen. Die Mater, schwerhörig, wie sie war, hatte Ohren wie ein Wiesel, sobald sie etwas nicht hören sollte .
»Hast du das Fenster aufgemacht, Yvette? Ich finde, du solltest eigentlich daran denken, daß wir Älteren schließlich auch noch da sind«, sagte sie.
»Man erstickt hier ja! Es ist nicht auszuhalten! Kein Wunder, daß wir alle immer erkältet sind.«
»Ich finde, das Zimmer ist groß genug, und das Feuer brennt ausgezeichnet.« Die alte Dame schüttelte sich ein bißchen. »Es zieht hier, daß wir uns alle den Tod holen können.«
»Kein bißchen zieht es«, schrie Yvette. »Bloß ein bißchen frische Luft.«
Die alte Dame schüttelte sich abermals und sagte:
»Frische Luft. Soso.«
Worauf der Pfarrer zum Fenster ging und es fest zumachte. Dabei sah er seine Tochter nicht an. Er handelte höchst ungern gegen ihren Willen. Aber sie mußte doch schließlich die Grenze kennen.
Die Kreuzworträtselraterei, vom Teufel persönlich erfunden, ging weiter, bis Großmuttchen ihre Tasse Horlicks getrunken hatte und den Weg ins Bett antrat. Nun kam die feierliche Handlung des Gutenachtsagens. Alle standen auf. Die Schwestern bekamen von der blinden alten Dame ihren Kuß, der Pfarrer reichte ihr den Arm, und Tante Cissie folgte mit einer Kerze in der Hand.
Dies alles geschah erst um neun Uhr, obwohl Großmuttchen nun wirklich alterte und eigentlich schon eher hätte im Bett sein sollen. Wenn sie dann aber im Bett lag, konnte sie nicht schlafen, bis Tante Cissie kam.
»Seht ihr,« sagte Großmuttchen, »ich habe niemals allein geschlafen. Vierundfünfzig Jahre lang habe ich keine Nacht geschlafen, ohne daß der Pater seinen Arm um mich gelegt hatte. Und als er von mir gegangen war, hab ich versucht, allein zu schlafen. Aber jedesmal, sobald ich die Augen zugemacht hatte, gabs meinem Herzen einen Stoß, daß es mir fast aus dem Leibe sprang, und ich flog an allen Gliedern. Ach, denkt meinetwegen, was ihr wollt, aber es war fürchterlich – nach vierundfünfzig Jahren einer wunschlos glücklichen Ehe. Ich hätte gewünscht, daß der Herr mich vor dem Pater heimrief, aber der Pater – ja, also ich glaube wirklich, er hätts nicht überstanden.«
Infolgedessen schlief Tante Cissie bei Großmuttchen. Und sie beklagte sich bitter. Sie käme niemals zum Schlafen, sagte sie. Und sie wurde grauer und grauer, und das Essen, das auf den Tisch kam, wurde immer schlechter, und schließlich mußte Tante Cissie sich operieren lassen.
Großmuttchen aber stand, wie immer, gegen Mittag auf, und beim Mittagessen führte sie, mit vorgewölbtem Bauch in ihrem Lehnstuhl thronend, den Vorsitz; ihr gerötetes Gesicht mit den Hängebacken – sein Ausdruck war so etwas wie abscheuliche Majestät – fiel unter der Mauer ihrer hohen Stirn in sanften Wellen herab, und ihre blauen Augen spähten blicklos umher. Ihr weißes Haar wurde dünn, und das Ganze war ein bißchen unappetitlich. Aber der Pfarrer schoß wohlgelaunt seine Witzchen auf sie ab, und sie tat, als ärgere sie sich darüber. In Wahrheit aber saß sie in ihrer betagten Fülle vollkommen zufrieden und behaglich da; nach den Mahlzeiten pflegte sie den Wind aus ihrem Magen zu entfernen, indem sie die Hand auf den Busen drückte und mit großem körperlichen Behagen rülpste.
Der schlimmste Ärger für die beiden Schwestern war die Tatsache, daß unabänderlich, wenn sie das ihnen befreundete junge Volk ins Haus brachten, Großmuttchen auf ihrem Platz thronte und alle Aufmerksamkeit für sich beanspruchte: ein greuliches Götzenbild aus vielem alten Menschenfleisch. Es war ja nur ein einziges Zimmer für Alle da. Da saß denn die alte Dame, und Tante Cissie hielt scharfe Wacht. Jeder Besucher mußte zuerst der Mater vorgestellt werden; sie war geneigt, leutselig zu sein, denn sie hatte gern Gesellschaft. Von Jedem mußte sie wissen, wer er war, und woher er kam; dazu alles, was sich in seinem Leben zugetragen hatte.
Dann, wenn sie ›im Bilde‹ war, konnte sie die Führung des Gesprächs an sich reißen.
Nichts hätte die beiden Schwestern ärger aufbringen können. »Ist sie nicht wundervoll, die alte Mrs. Saywell?« sagten die Besucher. »Wieviel Anteil nimmt sie noch am Leben – mit ihren beinahe neunzig Jahren!«
»Sie nimmt Anteil an den Angelegenheiten anderer Leute – wenn ihr das ›Leben‹ nennt«, sagte Yvette.
Sogleich aber hatte sie ein schlechtes Gewissen. Schließlich war es doch wirklich wundervoll, beinahe neunzig Jahre alt und dabei so klaren Geistes zu sein! Und dann tat Großmuttchen, wenn man es recht bedachte, niemals Irgendwem etwas zuleide. Es lag mehr daran, daß sie im Wege war. Und eigentlich war es doch wohl recht häßlich, einen Menschen nur deshalb zu hassen, weil er alt und im Wege war.
Yvette also bereute sogleich und war nett. Großmuttchen blühte auf und schwelgte in Erinnerungen an die Zeit, da sie noch ein kleines Mädchen war, in einem Städtchen in Buckinghamshire. Sie schwatzte und schwatzte und wußte ihre Hörer so zu unterhalten–! Ja, sie war eigentlich doch wirklich wundervoll.
Nachmittags kamen dann Lottie und Ella und Bob Framley mit Leo Wetherell.
»Oh, kommt herein!« – und dann ging der ganze Schwarm ins Wohnzimmer, wo Großmuttchen mit ihrem weißen Häubchen beim Feuer saß.
»Großmuttchen, darf ich dir Mr. Wetherell vorstellen?«
»Mr. –, wie war Ihr Name? Sie dürfen mir nicht böse sein, ich höre ein bißchen schwer.«
Großmuttchen gab dem jungen Manne, dem unbehaglich zumute war, die Hand und starrte ihn stumm, blicklos an. »Sie sind wohl nicht aus unserem Kirchspiel?« fragte sie.
»Aus Dinnington!« brüllte er.
»Wir möchten gern morgen einen Ausflug machen, nach Bonsall Head, in Leos Wagen. Wir können uns alle hineinquetschen«, sagte Ella leise zu den Anderen.
»Bonsall Head, haben Sie gesagt, nicht?« fragte Großmuttchen.
»Ja.«
Verblüfftes Schweigen.
»Im Wagen wollen Sie hinfahren, haben Sie gesagt, nicht?«
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