»Ach, du–!« rief Lucille ärgerlich. »Wir wollen doch alles hören!«
Die Frau holte unter einem der Wagen zwei Holzstühle hervor und stellte sie am Rade auf. Dann nahm sie die hochgewachsene dunkle Lottie Framley bei der Hand und bat sie, sich hinzusetzen.
»Ist Ihnen gleich, wenn alle Anderen hören?« fragte sie und sah Lottie neugierig ins Gesicht.
Lottie wurde dunkelrot vor Aufregung, als die Zigeunerin ihre Hand hielt und mit harten, grausamen Fingern über die Innenfläche strich.
»Oh, ja, mir ist es gleich«, sagte sie.
Die Zigeunerin sah aufmerksam in die Handfläche und folgte den Linien der Hand mit ihrem Zeigefinger, der hart und braun war. Aber sie hielt anscheinend auf Sauberkeit.
Und langsam gab sie ihre Wahrsagungen, während die Anderen zuhörten und laut ihre Bemerkungen dazwischenriefen. »Oh, damit ist Jim Baggaley gemeint! Du, das glaub ich nicht! Nein, das stimmt nicht! Eine schöne Frau, die unter einem Baume wohnt? Nanu, wer mag denn das wohl sein?«– bis Leo mit einer männlichen Warnung dazwischenfuhr.
»Hört doch auf, Mädels! Ihr verratet ja alles!«
Lottie, rot und verwirrt, trat zurück, und nun war die Reihe an Ella. Sie benahm sich viel ruhiger und gewitzter und versuchte die orakelhaften Worte zu deuten. Lucille platzte wieder mit ihren Bemerkungen dazwischen: »Na, also so was!« Der Zigeuner oben auf der Wagentreppe stand unerschütterlich, ohne irgendeinen erkennbaren Ausdruck. Aber seine kühnen Augen ließen Yvette keinen Augenblick los; sie fühlte den Blick auf ihrer Wange, auf ihrem Nacken, und sie wagte nicht den Kopf zu heben. Nur Bob Framley sah manchmal zu ihm auf und bekam den gleichen geraden unverwandten Blick der dunklen hochmütigen stolzen Augen in dem hübschen Gesicht als Antwort. Es war ein seltsamer Blick; es waren Augen, die zur Welt der Unterdrückten gehörten: war der Stolz des Geächteten, die halb spöttische Herausforderung des Ausgestoßenen, der die Befolger der Gesetze höhnt und seinen einsamen Weg geht. Während der ganzen Zeit blieb der Zigeuner droben stehen, das Kind im Arm, und sah zu, ohne irgendwie beteiligt zu sein.
Lucille ließ ihre Handlinien deuten: »Sie sind gewesen übers Meer, und dort haben Sie kennen gelernt einen Mann – einen braunhaarigen Mann – aber er war zu alt für Sie – –«
»Na, also so was!« rief Lucille und sah sich nach Yvette um. Aber Yvette hörte kaum zu; sie war geistesabwesend, erregt, war wieder einmal wie unter einem hypnotischen Bann.
»Sie werden heiraten in ein paar Jahren – nicht jetzt, aber in ein paar Jahren – vier vielleicht – und Sie werden nicht sein reich, aber sie werden haben genug – reichlich genug zum Leben – und sie werden wegreisen, einen langen Weg.«
»Mit Mann – oder ohne ?« rief Lucille.
»Mit ihm –«
Als die Reihe an Yvette war und die Frau lange Zeit kühn und grausam forschend ihr Gesicht betrachtete, sagte Yvette nervös:
»Nein, ich glaube, ich will mir nicht wahrsagen lassen. Nein, ich will nichts wissen. Wirklich, ich möchte nicht.«
»Sie haben Angst vor etwas?« sagte die Zigeunerin grausam.
»Nein, nicht deshalb–« Yvette wandte sich unruhig hin und her.
»Sie haben ein Geheimnis? Sie haben Angst, daß ich es werde sagen? Kommen Sie – wollen Sie nicht gehen in den Wagen, wo niemand hört?«
Der Ton der Frau hatte etwas seltsam Lockendes und Eindringliches; Yvette war während des ganzen Vorganges unzugänglich und eigensinnig. Auch ihr zartes, schmales junges Gesicht hatte nun diesen Ausdruck des Eigensinns, der es seltsam hart erscheinen ließ.
»Ja«, sagte sie plötzlich. »Ja! Das möchte ich wohl tun!«
»Ach, Unsinn!« riefen die Anderen. »Zier dich doch nicht so!«
»Du, mach das lieber nicht!« rief Lucille.
»Doch!« sagte Yvette in dem trotzigen Ton, den sie zuweilen unvermittelt anschlug. »Ich tus. Ich gehe mit in den Wagen.«
Die Zigeunerin rief dem Manne auf der Treppe etwas zu. Er verschwand für ein paar Sekunden im Innern des Wagens; dann kam er wieder heraus, stieg die Stufen herab, setzte das kleine Kind ab – es stand auf unsicheren Füßen – und nahm es bei der Hand. So schlenderte er, ein wenig stutzerhaft mit seinen blanken schwarzen Stiefeln, seinen engen schwarzen Hosen und seiner enganliegenden Wolljoppe, langsam über den Platz mit dem verdorrten Farnkraut zwischen den Steinen, das watschelnde Kind an der Hand – zu der Asthütte in der Höhle grauen Felsgesteins, wo der ältere Mann eben dem Rotschimmel seine Haferration in die Krippe schüttete. Als der Zigeuner an Yvette vorüberkam, sah er ihr gerade in die Augen, mit seinem unverwandten, kühnen, unverhüllt dreisten Blick – dem Blick des Geächteten. Irgend etwas in ihr wurde hart und wehrte sich gegen diesen Blick. Zugleich war es ihr, als löste sich die ganze Oberfläche ihres Körpers auf und würde zu Wasser. Dabei stellte das unbenennbare harte Etwas in ihr fest, wie klar und untadelig sein Gesicht geschnitten war, wie schön die Linie seiner geraden, schmalen Nase, seiner Wangen, seiner Schläfen war; wie seltsam die dunkle, lockende Anmut seines ganzen Körpers, dessen Linien die graue Wolljacke so deutlich erkennen ließ: eine Anmut, die wie menschgewordene höhnische Herausforderung wirkte.
Als er langsam an ihr vorüberschritt und sich dabei in den geschmeidigen Hüften wiegte, dachte sie abermals: Er ist stärker als ich. Von allen Männern, die mir je begegnet sind, ist dieser eine Einzige stärker als ich – in dem, was meine eigene Kraft ausmacht, in der Art, wie ich das Leben begreife.
So erkletterte sie neugierig hinter der Frau die Stufen des Wagens; der Saum ihres gutsitzenden gelbbraunen Mantels schwang um ihre Beine und gab unter dem blaßgrünen Stoff des Kleides beinahe die Kniee frei. Sie hatte lange, langausschreitende, feingeformte Beine, die eher zu schlank als zu stark waren, und trug Strümpfe aus feiner Wolle mit einem wunderlichen hellen und rehfarbenen Muster: man mußte an die Beine eines anmutigen Tieres denken.
Oben auf der Treppe blieb sie stehen und sah sich nach den Anderen um, freundlich; dabei sagte sie in ihrer unbefangen hochmütigen Art, so beiläufig:
»Ich sorge dafür, daß es nicht lange dauert.«
Der graue Pelzkragen ihres Mantels stand nun offen und ließ ihren zarten schlanken Hals und den blaßgrünen Stoff ihres Kleides sehen; ihr kleiner schmiegsamer gelbbrauner Hut war tief auf die Ohren herabgezogen und umrahmte ihr weiches frisches Gesicht. So wirkte sie: weich und doch irgendwie hochmütig und bedenkenlos. Sie wußte, daß der Zigeuner sich umgewandt hatte, um ihr nachzusehen. Sie sah sehr deutlich die schöne Linie seines braunen Nackens unter dem sorgsam gebürsteten schwarzen Haar. Er blickte hinter ihr her, als sie sein Haus betrat.
Was die Zigeunerin zu ihr sagte, hat niemand je erfahren. Die Anderen fanden, daß es sehr lange dauerte. Aus dem düsteren Tageslicht wurde Dämmerung, und die Luft wurde rauh und kalt. Aus dem Schornstein des zweiten Wohnwagens stieg Rauch; es roch nach kräftigem Essen. Das Pferd war gefüttert und in eine mit Riemen befestigte gelbe Wolldecke gehüllt; fern von der Gruppe standen zwei Zigeuner und unterhielten sich gedämpft. Es lag eine seltsame Stimmung über dem einsamen, verborgenen Steinbruch – Schweigen und Geheimnis.
Endlich öffnete sich die Wagentür, und Yvette kam heraus; sie beugte sich vor und schritt auf langen zauberhaften schlanken Beinen die Stufen herab. Es war eine ehrfürchtige, gebannte Stille um sie her, als sie im Dämmerlicht unter den Anderen erschien.
»Hat's lange gedauert?« fragte sie gedankenlos und ohne Irgendwen dabei anzusehen. Was die Anderen hören wollten, verschwieg sie mit dem sanften, ungreifbar schweifenden Eigensinn, der ihre Art war. »Hoffentlich habt ihr euch nicht gelangweilt! Jetzt freu ich mich aber auf den Tee. Wollen wir fahren?«
Читать дальше