Noch während die Frau redete, fühlte Yvette, daß da irgendwo eine verborgene Absicht lauerte. Aber sie machte sich nichts daraus. Mit dem kalten, schneidenden Haß eines Kindes haßte sie das Pfarrhaus mit allem, was darin war, haßte die ganze Fäulnis gestockten Lebens. Sie liebte das große, schwarzhaarige, wolfhafte Zigeunerweib mit den großen goldenen Ohrringen, dem hellroten Tuch über dem welligen schwarzen Haar, dem enganliegenden Mieder aus braunem Samt, dem grünen fächerartig sich ausbreitenden Rock. Sie liebte ihre braunen, starken, unbarmherzigen Hände, die sich so fest, Wolfsklauen gleich, in Yvettes weiche Handfläche gepreßt hatten. Sie liebte die Zigeunerin. Sie liebte ihre Gefährlichkeit und ihre im geheimen bereite Furchtlosigkeit. Sie liebte ihre im verborgenen lauernde, rücksichtslos fordernde Geschlechtskraft, die nach landläufigen Begriffen unsittlich war, aber ihren ganz eigenen harten trotzigen Stolz hatte. Keine Macht der Welt würde je diese Frau bezähmen. Sie würde das Pfarrhaus und seine Sittlichkeitsbegriffe maßlos verachten. Sie würde Großmuttchen mit einer Hand erdrosseln. Und mit derselben Verachtung, die sie für Rover, den fetten alten sabbernden Neufundländer hätte, würde sie auch auf Papa und Onkel Fred als Männer herabsehen. Eine große bittere Verachtung würde sie in ihrer weiblichen Kraft für solche Haushunde haben, die sich Männer nannten.
Und dann der Zigeuner – Yvette erschauerte plötzlich, als hätte sie den Blick seiner großen kühnen Augen mit seiner unverhüllten Begierde gespürt. Diese völlig unverhüllte Begierde lähmte sie so, daß sie flach in den Kissen lag, als hätte ein Betäubungsmittel sie aufgelöst und ganz verwandelt.
Sie hat niemals Irgendwem gestanden, daß zwei Pfund aus der unseligen ›Fensterstiftung‹ in die Tasche der Zigeunerin gewandert waren. »Wenn Papa und Tante Cissie das erst wüßten–!« dachte Yvette und reckte sich lustvoll in den Kissen. Der Gedanke an den Zigeuner hatte das Leben in ihren Gliedern aus der Starre erlöst und in ihrem Herzen den Haß gegen das Pfarrhaus Gestalt werden lassen: so daß sie nun Kraft in sich spürte statt Ohnmacht. Als Lucille heimkam und von Tante Cissies dramatischer Einlage in der Schlafzimmertür erfuhr, war sie empört. »Ach, hol sie der Henker!« rief sie. »Jetzt könnte sie doch endlich mal damit aufhören! Ich denke, wir haben nun allmählich genug davon gehört! Guter Gott, man sollte tatsächlich glauben, Tante Cissie wäre ein weißgewaschenes Engelchen! Papa hat die Geschichte begraben, und wenn sie überhaupt Irgendwen angeht, dann geht sie doch wohl schließlich ihn an! Soll Tante Cissie doch den Schnabel halten!«
Gerade dies aber war die Ursache, die Tante Cissies Galle in giftigem Fluß erhielt: daß der Pfarrer die Geschichte begraben hatte und die ungreifbar schweifende und achtlose Yvette wieder so behandelte, als wäre sie ein mit besonderen Vorrechten ausgestattetes Wesen. Die Tatsache, daß Yvette wirklich die Gefühle Anderer meistens gar nicht bemerkte und sich, da sie sie nicht bemerkte, auch nicht darum kümmern konnte, trieb Tante Cissie fast zur Raserei. Sie sah nicht ein, weshalb dieses junge Geschöpf, Tochter einer verworfenen Mutter, auch noch Vorrechte genießen sollte und das Vorhandensein anderer Leute einfach übersehen durfte, selbst wenn sie ihm unmittelbar unter der Nase lebten.
Lucille war damals sehr reizbar. Man hatte den Eindruck, daß ihre Nerven richtig ein bißchen aus dem Gleichgewicht gerieten, sobald sie das Pfarrhaus betrat. Die arme Lucille; sie war so gewissenhaft und nahm jede Kleinigkeit so schwer! Sie bürdete sich sämtliche besonderen Scherereien auf, sie sorgte für Ärzte, Arzneien, Dienstboten und alles, was es sonst so gab. Sie schuftete pflichtgetreu jeden Tag in der Stadt ihre Arbeitsstunden herunter und arbeitete von zehn bis fünf in einem Zimmer bei künstlichem Licht. Und dann kam sie heim – nur um sich die Nerven durch Großmuttchens fürchterliche und beharrliche Wißbegier und schmarotzerhafte Altersgewohnheiten beinahe bis zum Wahnsinn zerfetzen zu lassen.
Der Sturm um die ›Fensterstiftung‹ hatte offenbar ausgetobt, aber es blieb eine dumpfe Spannung in der Luft des Hauses. Das schlechte Wetter dauerte an. Lucille blieb an ihrem freien Nachmittag zu Hause, aber sie hatte nicht viel davon. Der Pfarrer war in seinem Studierzimmer, Großmuttchen schlief auf dem Sofa. Die Schwestern schneiderten gemeinsam ein Kleid für Yvette.
Es war ein Kleid aus französischem Seidensamt, und man sah schon, daß es sehr hübsch werden würde. Auf Lucilles Verlangen mußte Yvette es noch einmal anproben: denn Lucille konnte sich über den Sitz unter den Armen durchaus noch nicht beruhigen.
»Immer diese Aufregung!« rief Yvette und reckte ihre langen schlanken kindhaften Arme, die bei Kälte dazu neigten, bläulich anzulaufen. »Sei doch nicht so gräßlich püttjerig , Lucille! Es sitzt doch ausgezeichnet.«
»Na, wenn das der ganze Dank dafür ist, daß ich meinen freien Nachmittag hier bei der Schneiderei für dich versitze, dann könnte ich ebensogut was für mich selber tun.«
»Du weißt ganz genau, daß ich dich nicht darum gebeten habe! Aber du mußt ja immer und überall die Aufsicht führen, sonst hältst du's nicht aus«, sagte Yvette in ihrer aufreizend freundlichen Art, hob die nackten Ellbogen und besah sich über die Schulter hinweg im Stehspiegel.
»Das stimmt! Gebeten hast du mich nie!« sagte Lucille heftig. »Als ob ich nicht ganz genau wüßte, was dahintersteckt, wenn du mit der Stöhnerei und dem Gezappel anfängst!« »Ich –?« sagte Yvette mit gedankenloser Verwunderung. »Wieso? Wann hab ich denn gestöhnt und gezappelt?«
»Du weißt ganz genau, daß du's getan hast.«
»Tatsächlich –? Nein, ich weiß es wirklich nicht! Wann war denn das?« Yvette verstand es, ihren sanften, ziellos abschweifenden Fragen einen Klang zu geben, der regelrecht aufreizend wirkte.
»Also ich mache nicht einen einzigen Stich mehr an deinem Kleid, wenn du nicht stillstehst und aufhörst «, sagte Lucille; ihre Stimme klang jetzt tief, und man spürte die schwellende Erregung.
»Hör mal, du bist doch eigentlich ganz schrecklich nörglerisch und empfindlich, Lucille«, sagte Yvette und trat von einem Fuß auf den anderen, als würde ihr der Boden zu heiß.
»Schluß jetzt, Yvette!« schrie Lucille, und ihre Augen schossen plötzlich wilde Blitze. »Sofort Schluß, sag ich dir! Ich möchte wirklich mal wissen, wer sich eigentlich deine scheußlichen und rücksichtslosen Launen gefallen lassen soll!«
»Ich habe an mir noch nichts von Launen bemerkt«, sagte Yvette, indessen sie sich langsam dem halbfertigen Kleide entwand und wieder in ihr altes Kleid schlüpfte.
Dann setzte sie sich an den Tisch und begann im trüben Nachmittagslicht an dem blauen Stoff zu nähen; ihr Gesicht sah, wie immer nach solchen Auseinandersetzungen, ein bißchen trotzig aus. Blaue Stoffschnitzel lagen überall im Zimmer umher, die Schere war zu Boden gefallen, der Inhalt des Nähkorbes war über den ganzen Tisch verstreut, und ein zweiter Spiegel stand, bedrohlich nahe am Abgrund, auf dem Klavier.
Großmuttchen hatte auf dem breiten, weichen Sofa in jenem Halbschlummer gelegen, den man ›Drusseln‹ nennt. Jetzt richtete sie sich auf und rückte ihr Häubchen zurecht.
»Dabei soll man nun in Frieden ein bißchen schlafen können«, sagte sie und betastete langsam ihr dünnes, weißes Haar, um sich zu überzeugen, ob es in Ordnung war. Sie hatte unbestimmte Geräusche gehört.
Tante Cissie kam herein und suchte in einem Beutel nach Schokolade.
»In meinem Leben hab ich nicht so eine Wirtschaft gesehen!« sagte sie. »Es wäre ganz angebracht, wenn du hier mal ein bißchen aufräumen würdest, Yvette.«
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