Der Freitag kam, und sie mußte den ganzen Tag an den Steinbruch droben an der Landstraße auf dem Head denken. Sie wünschte, sie wäre dort. Das war alles, was ihr zum Bewußtsein kam. Sie wünschte, sie wäre dort. Aber es kam ihr nicht einmal entfernt in den Sinn, hinaufzufahren. Außerdem regnete es wieder. Aber indessen sie das blaue Kleid fertig nähte, um es morgen auf der Gesellschaft in Lambley Close tragen zu können, fühlte, ja fühlte sie, daß ihre Seele dort oben war, in dem Steinbruch, mitten zwischen den Wohnwagen, bei den Zigeunern. Es war, als träumte sie, oder als hätte man ihr die Seele gestohlen: sie war nicht mehr in ihrem Körper, in der Hülle, die ihr Körper war. Ihr eigentliches Selbst war weit weg, droben im Steinbruch, bei den Wohnwagen.
Am anderen Tage, auf der Gesellschaft, hatte sie keine Ahnung, daß sie Leo auf begeisternde Art auszeichnete. Sie hatte auch keine Ahnung, daß sie ihn der gemarterten Ella Framley ausspannte. Das kam ihr erst zum Bewußtsein, als sie ihr Pistazieneis aß; da sagte er nämlich:
»Warum verloben wir uns eigentlich nicht, Yvette? Ich glaube wirklich, daß wir beide großartig zueinander paffen. Wirklich.«
Leo war ein bißchen unfein, aber gutmütig und reich. Yvette fand ihn ganz lieb und nett. Aber verloben –? Was für ein ausgefallener Unsinn! Fast hätte sie gesagt: Willst du dich nicht mit einem Exemplar meiner seidenen Unterwäsche verloben?
Laut und in erstauntem Ton sagte sie: »Aber ich dachte doch, du wolltest dich mit Ella –?«
»Tja. Das hätt ich ja vielleicht auch getan, wenn du nicht wärst. Aber seit damals, als die Zigeuner da oben euch wahrsagten, hab ich immer denken müssen, daß kein Anderer zu dir paßt als ich, und daß keine Andere zu mir paßt als du.«
»So was –!« sagte Yvette, überwältigt von fassungslosem Staunen. »So was –!«
»Ist dir nicht auch ein bißchen so zumute gewesen?« fragte er.
»So was –!« Yvette schnappte noch immer nach Luft, lautlos, wie ein Fisch.
»Dir ist auch ein bißchen so zumute gewesen, nicht?« fragte er.
»Wieso? Inwiefern?« fragte sie rasch, wie erwachend.
»Ich meine: Du hast doch auch das Gefühl, daß ich für dich – ich meine, daß du für mich – –«
» Was für ein Gefühl? – daß wir uns verloben sollen, meinst du? Was? Ich? Nein! Wie kommst du denn auf so was?! Noch nicht mal im Traum ist mir etwas so Unmögliches eingefallen.«
Sie sagte es mit ihrer gewohnten achtlosen Aufrichtigkeit, ohne auch nur die geringste Rücksicht auf seine Empfindungen zu nehmen.
»Wieso denn nicht? Weshalb denn nicht?« fragte er ein bißchen gekränkt. »Ich meinte, du dächtest wie ich?«
»Hast du das tatsächlich geglaubt?« staunte sie atemlos, mit der sanften, ganz mädchenhaften, achtlosen Aufrichtigkeit, der sie ihre Bewunderer und ihre Feinde verdankte. Vor diesem unverkennbar vollkommenen Staunen blieb ihm nichts weiter übrig, als dazustehen und verärgert die Daumen zu drehen.
Die Musik setzte ein, und sie fühlte seinen Blick.
»Nein, ich will nicht mehr tanzen«, sagte sie. Und sie reckte sich auf und ließ den Blick ein wenig hochmütig in die Runde schweifen, als wäre Leo gar nicht vorhanden. Es lag etwas wie ein Hauch verwirrten Staunens auf ihrer Stirn, und wer ihr weiches verschleiertes unberührtes Gesicht sah, mochte sich wirklich an das Schneeglöckchen gemahnt fühlen, das ihres Vaters gefühlsselige Phantasie erdacht hatte.
»Aber du sollst natürlich tanzen«, sagte sie und wandte sich ihm mit einer Herablassung zu, die sehr jugendlich wirkte. »Hol dir eine Tänzerin, damit du zu deinem Recht kommst.«
Er stand auf, ärgerlich, und ging durch den Saal.
Sie blieb zurück, mit sanftem und fernem Lächeln, und überließ sich ihren verwunderten Gedanken. Auf alles Andere wäre sie eher gefaßt gewesen als auf einen Antrag Leos. Überhaupt – Verlobung? Unvorstellbar, an wen sie auch denken mochte. Gütiger Himmel, nein, etwas Unmöglicheres konnte es überhaupt gar nicht geben.
In diesem Augenblick geschah es, daß ein flüchtig aufblitzender Gedanke ihr das Vorhandensein des Zigeuners in Erinnerung brachte. Und sogleich war sie empört. Ausgerechnet Leo! Der –! Niemals!
»Aber warum denn eigentlich?« fragte sie sich und versank wieder in ihr stilles Verwundern. »Warum? Es ist vollkommen unmöglich: vollkommen! Aber warum?«
Die Frage war eine harte Nuß. Sie sah sich die jungen Herren an, wie sie durch den Saal tanzten, mit gespreizten Ellbogen, ausladenden Hüften und elegant betonter Schmalheit der ›Taille‹. Die brachten sie der Lösung der Frage nicht näher. Und doch spürte sie einen regelrechten Widerwillen gegen die gewaltsam betonte Eleganz der schlanken ›Taillen‹ und die ausladenden Hüften, die von den untadelig fallenden Rockkunstwerken ›erster‹ Schneider mit einer so weibisch wirkenden zarten Betonung bedeckt waren.
»Es ist etwas in meinem Wesen, das sie nicht sehen und auch niemals sehen werden«, sagte Yvette erbittert zu sich selbst. Und trotzdem fühlte sie sich erleichtert bei dem Gedanken, daß sie es nicht sahen und nicht sehen konnten. Das Leben wurde dadurch um so Vieles einfacher.
Und wieder sah sie – denn sie gehörte zu den Menschen, die in deutlich vorgestellten Bildern denken – das dunkelgrüne Wollwams des Zigeuners und seine schwarze Hose, sah seine schmalen, gelenkigen Hüften, die so behende waren wie Augen. Das, dachte Yvette, ist es, was ich elegant nenne. Die »eleganten« Tänzer kamen ihr vor wie ausgestopfte Anzüge; ihre Hüften sahen aus wie mit Fett gepolstert. Mit Leo war es genau so. Und er glaubte wunder was für ein guter Tänzer und Herzensbrecher zu sein!
Dann sah sie das Gesicht des Zigeuners: seine gerade Nase, die schlankgeschnittenen beweglichen Lippen, den geraden, unverwandten, deutungsvollen Blick, der wie ein tödlich sicherer Schuß eine verborgene Stelle im innersten Kern ihres Lebens traf.
Erbittert reckte sie sich auf. Wie durfte er es wagen, sie so anzusehen? Ihr wütender Blick ließ ihren Zorn an der Blödheit der hübschen Jünglinge auf der Tanzfläche aus. Wie ich sie verachte! Lachte sie. Mit der Verachtung, die Yvette in diesem Augenblick empfand, mögen wohl die zerlumpten Zigeunerweiber den Männern nachblicken, die keine Zigeuner sind, und die wie die wohlerzogenen Hunde durch die Straßen trotten. Woher, dachte Yvette, sollte aus der Gesellschaft da der recht gestimmte, der einsame und unwiderstehlich lockende Ruf kommen, der zu mir dringen könnte?
Sie hatte kein Verlangen danach, sich einem Haushunde zu gesellen.
Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken, ihre zarten Nasenflügel zitterten nervös, ihr weiches braunes Haar umrahmte, eine weiche Umhüllung, ihr zartes blumenhaftes Gesicht; so saß sie und sann. Sie sah so mädchenhaft, so unberührt aus. Und doch gemahnte ein unbenennbarer Zug an die schlanke junge Hexe aus dem Bauernmärchen, von der sich die wohlerzogenen Haushunde von Männern mit scheuer Witterung fernhalten. Es konnte sich mit ihr irgendeine ungemütliche Verwandlung begeben, bevor man wußte, woran man war.
Dies war es, was sie einsam machte, so sehr man sie auch umwarb. Vielleicht machte gerade dieses Umworbenwerden sie nur noch einsamer.
Leo freilich war so etwas wie ein Bullenbeißer unter den Haushunden. Er kehrte nach dem Tanz mit frischem Mut zurück und ging mit Hurra zum Angriff vor.
»Na, jetzt hast du's dir wohl inzwischen ein bißchen überlegt, was?« fragte er und setzte sich neben sie: Leo Wetherell, ein behaglicher, gutgenährter, entschlossener junger Mann. Sie wußte nicht, weshalb es sie so unvernünftig aufbrachte, zu sehen, wie er voll heiteren Selbstvertrauens Platz nahm und seine verläßlichen, wenn auch nicht besonders edelgeformten Beine von sich streckte: wobei er das Beinkleid an den Knieen ein wenig anhob.
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