Ram wandte sich an sein Computersystem. »Cyberport, lade den benutzerdefinierten Datensatz der Poker-Statistiktabellen und stelle sie den Standard-Wahrscheinlichkeitstabellen für dieses Spiel gegenüber. Schalte beides auf Stand-by.«
Die AR blendete einen Bestätigungstext ein, anschließend verschwanden die visuellen Signale. Alles schien problemlos zu funktionieren.
Rams Nervosität hatte sich inzwischen verflüchtigt, was er auf die Kombination von Aufbaugedanken, Technikcheck und Sonnenbrillenschutz zurückführte.
Er fand, es war Zeit, die nähere Umgebung wieder in den Blick zu nehmen.
Die Lobby des Kasinos hatte sich inzwischen gefüllt. Da Ram wusste, dass Zuschauer bei diesem Event nicht zugelassen waren, mussten fast alle Menschen im Raum Spieler sein. Das fortwährende Gedankengemurmel, das ihn umgab, konnte er gerade ziemlich gut ausblenden.
Die meisten Männer hatten sich, ähnlich wie er, in Schale geworfen, auch wenn nicht jeder Anzug und Krawatte trug. Manche beschränkten sich auf die 1980er Standardkombination Jeans, T-Shirt, Sneakers und Jackett, andere kleideten sich eher futuristisch.
Ram war hier einer der Jüngeren. Die meisten Turnierteilnehmer schienen Männer und Frauen in den Vierzigern und Fünfzigern zu sein, und viele von ihnen wirkten so, als täten sie alles, um sich und der Welt zu beweisen, dass sie mit jedem Dreißigjährigen mithalten konnten. Sie waren sichtlich gut in Form, trainiert, gebräunt und gesund ernährt, und vielleicht half der eine oder andere auch mit Anti-Aging-Medikamenten nach.
Manche Kasinogäste, die im Schnitt noch einmal zehn Jahre älter sein mochten, spielten offenbar in einer höheren Liga. Die Angehörigen dieser Gruppe, die fast ausschließlich aus Männern bestand, verzichteten auf Körperkult und Gesichtsbräune.
Stattdessen stellten sie ihre Macht und ihren Geschmack zur Schau. Edle Budapester, wahrscheinlich aus handgenähtem Kalbsleder, Maßanzüge mit dezenten Krawatten, hochpreisige Armbanduhren aus der Schweiz.
In diesen Kreisen vermutete Ram seine härtesten Gegner. Leute, die spielten, obwohl sie es nicht nötig hatten.
Seltsamerweise trug kein Mensch außer ihm eine Sonnenbrille, weder die Körperfetischisten noch die distinguierten Herren im Maßanzug.
Er weckte seine AR mit einem Sprachbefehl aus dem Stand-by-Schlummer und erkundigte sich nach den Gepflogenheiten im Umgang mit Sichtschutzbrillen bei einem offiziellen Hold-‘Em-Turnier.
Und erfuhr, dass es als mittelschwerer Fauxpas galt, seine Sonnenbrille aufzusetzen, bevor man am Tisch saß. Nur Amateure ohne Spielerfahrung taten das.
Wunderbar, dachte Ram und grinste. Umso größer wird die Überraschung sein …
Ein dezenter Gong ertönte, offenbar das Zeichen für den Einlass. Ram folgte der Menschentraube und behielt die Leuchtanzeigen an der Wand im Blick.
Kaisersaal. Königssaal. Kurfürstensaal.
Irgendwie typisch.
Andere können sich wie Kaiser und Könige fühlen, und ich bin hier nur ein armseliger Kurfürst …
Er reihte sich in die Schlange vor der Zugangsschleuse ein, die den Weg in den Kurfürstensaal versperrte.
Als er den Sicherheitsprüfungssektor betrat, der wie ein Ganzkörperscanner aufgebaut war, stellte er sich aufrecht hin und hob die Arme, so wie es eine Monitoreinblendung angeordnet hatte.
Plötzlich heulte eine penetrante Warnsirene los, und mehrere Lichter in der Schleuse begannen, hektisch zu blinken.
Fuck, was ist denn jetzt schon wieder los …
Zwei Wachleute betraten die Schleuse und bedachten Ram mit Blicken, die ihn an den Gesichtsausdruck von Fußgängern erinnerten, die gerade in Hundescheiße getreten waren.
Ram konnte nicht umhin, ihre Gedanken zu hören.
Wieder so ein Arsch, der hier einen Aktiv-Cyberport reinschmuggeln will … Na warte, Junge, du wirst nie wieder in ein Spielcasino reinkommen.
Doch bevor die Wachleute den Mund aufmachen und den vermeintlichen Delinquenten an die Luft setzen konnten, deutete der bulligere der beiden Männer auf Rams rotes Nummernschild. Dabei hellte sich seine Rausschmeißermimik auf und machte einem breiten Grinsen Platz.
»Ein Arry …«, sagte der bullige Typ zu seinem Kollegen, und auch der Kollege schien sich merklich zu entspannen. Er fummelte an einem tragbaren Minicomputer herum, worauf die Sirene verstummte und die Lichter aufhörten zu blinken.
Arry? Wahrscheinlich ihr Spitzname für einen Spieler mit AR-Schild.
Dann wandte der bullige Mann sich an Ram, der höflichkeitshalber seine Sonnenbrille abgenommen hatte.
»Falscher Alarm, Herr Collins. Ihr AR-System ist bei uns registriert. Eigentlich hätte der Alarm gar nicht losgehen dürfen. Aber Sie wissen ja, wie das manchmal so ist mit der modernen Technik …«
Offenbar wollte ihn der Typ tatsächlich um Entschuldigung bitten.
Ram zwang sich ein »Schon okay« ab. Der schlankere Mann sagte: »Kommen Sie«, und Ram folgte den Wachschutzleuten, die ihn durch die Schleuse führten. Anschließend brachte ihn seine persönliche Eskorte durch eine hohe klassizistische Flügeltür in den Kurfürstensaal. Er bemühte sich dabei, die durchwegs despektierlichen Gedanken seiner Begleiter zu überhören.
Aber auch ohne telepathisch übertragene Beleidigungen wäre diese Situation an Würdelosigkeit kaum zu überbieten gewesen, und obwohl sie Rams Pläne, sich als Idiot zu präsentieren, hilfreich unterstützte, durchliefen ihn mehrere Hitzewellen, die mit einem Gefühl tiefer Scham einhergingen.
Sein Herz hämmerte wieder so heftig wie vor einer halben Stunde, als er in Panik geraten und fast ein bisschen paranoid geworden war.
Verfluchte Scheiße, beruhige dich gefälligst, sonst bist du hier nach vierzig, fünfzig Spielminuten wieder weg. Ohne einen einzigen verdammten Chip …
Er zwang sich, seine Wahrnehmung auf die Außenwelt zu richten. Nach seinen Erfahrungen konnte das eine gute Methode sein, um nicht allzu sehr im Selbstmitleid zu baden und sich selbst verrückt zu machen.
Ähnlich wie die Lobby des Paradise strahlte auch der Kurfürstensaal in verschwenderischem Licht, das von Kronleuchtern an der Decke kam. Wie in anderen Kasinos gab es hier weder Fenster noch Uhren, denn beides beeinträchtigte den erwünschten Spielrausch erheblich. Wenn es um ernsthaftes Pokern ging, konnte die Realität gerne draußen bleiben.
Im Kurfürstensaal befanden sich mehrere große ovale Tische mit Nummernanzeigen von eins bis vier, die mit bordeauxrotem Samt überzogen waren. An jedem Spieltisch saß ein Dealer in Croupieruniform. Schwarze Weste, Anzughose, weißes Hemd, schwarze Fliege.
Der Gong ertönte noch einmal. Sich an die Tische zu setzen war erst beim dritten Gongschlag gestattet. Jetzt, nach dem zweiten Gong, begann die Verlosung der Plätze, die von einem Computersystem durchgeführt wurde.
Die Blicke der Turnierteilnehmer richteten sich auf einen Monitor, der an der Saalwand gegenüber der Eingangstür hing.
Zunächst erschienen die Nummern der vier Spieltische, dann bekam jeder Tisch zehn Platznummern. Ein Zufallsgenerator ließ die Zahlen wild durcheinander tanzen, bis man die einzelnen Ziffern nicht mehr erkennen konnte.
Dreißig Sekunden später stoppte das Gewirbel abrupt. Nun waren den Tischen neben den Platzbezeichnungen die Nummern der Spieler zugeordnet.
Ram, Teilnehmer sechsunddreißig, sah, dass er Position drei am zweiten Tisch bekommen hatte. Also der dritte Platz auf der linken Seite des Dealers.
Vor ihm waren nur die beiden Spieler an der Reihe, die die Grundeinsätze, die Blinds, bezahlen mussten. Rams Position galt als unkomfortabel, und sie wurde nicht umsonst under the gun genannt.
Es gab genügend Gegner, die nach ihm drankommen würden und stets darauf setzen konnten, ihn deutlich zu überbieten, wenn sie ein starkes Blatt hatten. Außerdem dauerte es under the gun im Normalfall etwas länger, bis man wusste, wie gut die anderen Spieler waren, denn sie hatten ja noch keine Einsätze gemacht.
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