Der Zeitpunkt entscheidet
Pioniere können also nicht immer die erwarteten Vorteile realisieren. Das hat auch damit zu tun, dass viel vom richtigen Zeitpunkt – und damit vom Glück – abhängt. Die Amerikaner Fernando Suarez und Gianvito Lanzolla identifizierten in ihrem Aufsatz aus dem Jahr 2005 mit dem Titel The Half-Truth of First-Mover Advantage technologische Innovation und die Entwicklungsgeschwindigkeit des Marktes als entscheidende Faktoren. Sie entscheiden, ob es vorteilhaft ist, der Erste zu sein. Wenn ein Markt sich nur langsam bewegt und die technischen Innovationen begrenzt sind, hat der Erste oft große Vorteile. Als Beispiel wurde der Markt für Staubsauger genannt, hier vor allem der langfristige Marktführer Hoover. Bis zur Einführung der Dyson-Staubsauger vor relativ kurzer Zeit war der Markt wohlwollend, die technische Entwicklung schritt langsam voran. Seit Hoover als Marktpionier 1908 auf den Plan trat, genoss das Unternehmen über Jahrzehnte hinweg Vorteile, die sich unter anderem darin zeigen, dass im Englischen »to hoover« als Verb für »staubsaugen« verwendet wird.
Der Erste in einem neuen,unerprobten Markt zu sein, ist an sich keine Erfolgsgarantie. Der Lisa von Apple war der erste Computer mit grafischer Benutzeroberfläche – heute bei jedem Computer, Smartphone und Digitalgerät selbstverständlich –, doch später auf den Markt gebrachte Modelle von Commodore, IBM und HP verkauften sich viel besser.
In Branchen mit rasanten technologischen Veränderungen oder schneller Marktentwicklung sind Pioniere dagegen oft im Nachteil. Die ersten Suchmaschinen hatten zu viel und zu schnell in Technologien investiert und konnten sich dann die weitere technische Entwicklung nicht leisten. In schnell veränderlichen Märkten werden frühe Vorteile also schnell eingeholt. Mit der Zeit werden Nachfolger als fortschrittlicher betrachtet, weil sie aus den Fehlern der Pioniere lernen und dank ihrer Kenntnis des Marktes innovative Funktionen bieten. Selbst wenn der Pionier zunächst einen Vorteil hat, verliert er ihn in veränderlichen Märkten schnell wieder. Sogar Apple ist nicht gegen Nachteile wegem späterer Entwicklungen gefeit. Zwar brachte das iPhone zunächst bedeutende Pioniervorteile mit sich. Doch die Wettbewerber, allen voran Samsung, achteten genau auf die Probleme der Kunden mit dem iPhone, analysierten deren Bedürfnisse und stellten Produkte mit Funktionen her, die der Markt sich wünschte. Apple war in alten Technologiezyklen gefangen, reagierte nicht schnell genug und der Absatz des iPhones ging zurück.
Die Bedürfnisse der Kunden
Es ist also nicht zwingend notwendig, der Erste zu sein, um sich einen Vorteil zu sichern. Der US-Konzern Procter & Gamble zum Beispiel dringt nur auf Märkte vor, in denen er langfristig eine starke Position als Marktführer oder Zweiter etablieren kann. Dabei geht er keinesfalls überstürzt vor. Procter & Gamble sucht in Ruhe nach demografisch und strukturell attraktiven Märkten, in denen das Unternehmen wenig investieren muss, aber hohe Gewinnspannen erwarten kann. Dazu erforscht es in jedem potenziellen Markt sehr genau die Kundenbedürfnisse. Procter & Gamble verzichtet darauf, als Pionier aufzutreten.
»Wenn Sie etwas gut können, dann machen Sie es noch besser. «
Anita RoddickUnternehmerin (1942–2007)
Das Unternehmen zieht vielmehr reife Märkte vor und baut dort langfristige Beziehungen zu Kunden und Lieferanten auf. Es betrachtet Innovation anders als kleinere Unternehmen, die danach streben, Technologien zu entwickeln, die den bestehenden Markt revolutionieren, um sich Marktanteile zu sichern. Procter & Gamble betrachtet derartige Strategien als kurzlebig, vielleicht weil das Unternehmen die Ergebnisse aus der Forschung kennt. Man hat erkannt, dass zu schnelle Innovationen dazu führen können, dass sich die Einnahmen und die Rendite bei der Produktentwicklung verringern.
Der PalmPilot, der 1997 auf den Markt kam, war ein erfolgreiches Nachfolgeprodukt des Newton von Apple, des ersten Personal Digital Assistant (PDA), der je verkauft wurde.
Den Markt der Wegwerfwindeln betrat Procter & Gamble beispielsweise über zehn Jahre nach dem Pionier. Ihre berühmte Marke Pampers gibt es seit 1961, also wesentlich kürzer als die Marke Chux von Johnson & Johnson, die bereits 1949 auf den Markt gekommen war. Wegwerfwindeln waren damals noch neu und die Kunden zögerten. Procter & Gamble wartete, bis die Kunden das Produkt akzeptiert hatten. Die Firma investierte fünf Jahre, um Chux genau zu untersuchen und alle wichtigen Probleme zu lösen. Dann entwickelte sie ein Produkt, das mehr Flüssigkeit absorbierte, dichter schloss, angenehmer war, zwei Größen hatte und billiger zu produzieren war. Heute werden Pampers in der Zeitschrift Forbes in der Liste der bedeutendsten Marken der Welt geführt. Ihr Wert wird auf über 8,5 Mrd. Dollar geschätzt, weil die Windeln von 25 Mio. Verbrauchern in mehr als 100 Ländern gekauft werden. Chux dagegen wurde in den 1970er-Jahren von Johnson & Johnson wegen fallender Verkaufszahlen abgesetzt.
Obwohl die Ansicht, dass es beim Markteintritt auf Geschwindigkeit ankommt, noch immer weit verbreitet ist, hat es wohl doch mehr mit dem Produkt zu tun, ob ein Vorsprung erreicht werden kann. Es ist zwar wichtig, ob man Erster, Zweiter oder Letzter ist, aber noch wichtiger ist, dass die Produkte auf den Markt abgestimmt sind und die Marke ihre Versprechen hält. Diese beiden Faktoren wirken sich sehr stark auf den langfristigen Unternehmenserfolg aus.
Amazon genießt zwar seit langem seinen Pioniervorteil, aber der allein ist nicht für den großen Erfolg der Firma verantwortlich. Amazon nutzt ihn als einen wichtigen Faktor im Wettbewerb, indem es die Website ständig verbessert, eine Reihe ergänzender Produkte anbietet und die Kosten immer weiter senkt, um die tiefsten Preise auf dem Markt bieten zu können. Amazon warf erst 2001 einen Gewinn ab – in den Anfangsjahren wurde alles Geld in die Verbesserung des Produkts gesteckt. So kann der Pioniervorteil vielleicht als Grundstein gelten, aber inzwischen beruht Amazons Vorsprung auf nachhaltig guter Geschäftsführung.
Dennoch haben Pioniere einen Wettbewerbsvorteil. Er kann auf einem bleibenden Eindruck bei den Kunden beruhen oder auch auf einem hohen Wiedererkennungswert der Marke, hohen Umsteigekosten, der Kontrolle über knappe Ressourcen oder mehr Erfahrung. Damit haben sie eine starke Ausgangsbasis. Die Forschung zeigt jedoch, dass auch Nachfolger oft im Vorteil sind. Ihre Produkte sind oft überlegen und trotzdem günstiger, weil sie aus den Fehlern der Ersten lernen. Mit geschicktem Marketing gleichen sie so den Vorteil des Pioniers aus. Fazit ist, dass Unternehmen entweder als Erster die Kunden beeindrucken oder besser sein müssen. Den Firmen, die im Gedächtnis bleiben, den Amazons und Googles, ist eines davon gelungen. Wer keines von beiden schafft, wird schnell wieder vergessen. 
»Man muss nicht unbedingt der Erste sein, es reicht, wenn man Besseres zu bieten hat. «
Hasso PlattnerMitgründer von SAP (geb. 1944)
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