In meinem Leben ist mir noch nie ein Mensch begegnet, der über eine vergleichbare Ausstrahlung verfügt. Constantins Erscheinung und nur wenige Worte aus seinem Mund genügen, um einen regelrecht gefangen zu nehmen. Er fasziniert seine Mitmenschen und entfacht in ihnen die Bereitschaft, für ihn durchs Feuer zu gehen.
Auch mir fällt es schwer, sich seinem Bann zu entziehen.
Nach dem Abendessen räumen wir gemeinsam den Tisch ab, waschen das Geschirr und decken bereits für das Frühstück am nächsten Morgen ein. Jeder kennt seine Aufgabe und erfüllt diese mit leidenschaftlichem Pflichtgefühl.
Als ich damit fertig bin, die Stühle am Tisch zurecht zu rücken, läuft Constantin an mir vorbei. Er berührt mich kurz an meiner Schulter und ich drehe mich ihm zu.
„Du wirkst in letzter Zeit sehr nachdenklich, Maiah", richtet er das Wort an mich. „Geht es dir gut? Oder quälen dich deine Erinnerungen wieder?", fragt er mit samtweichem, einfühlsamem Tonfall, während er sich über seine Wange streicht - und zwar genau an der Stelle, an der meine Narbe verläuft.
„Ich habe gute und schlechte Tage", erwidere ich. „Es ist nicht so leicht, sich den Schatten der Vergangenheit zu entledigen."
„Natürlich", stimmt Constantin mir voller Verständnis zu. „Durch unsere gemeinsamen Gespräche konnten wir zusammen schon viel erreichen. Lass uns hieran anknüpfen", schlägt er mir plötzlich vor. Mein Herz beginnt wild gegen meine Brust zu hämmern und ich spüre deutlich, wie sich mein Bauch verkrampft. Dennoch darf ich mir nichts anmerken lassen.
„Das würde mir sicherlich sehr weiterhelfen."
Constantin lächelt mich zuversichtlich an. „Dann sehen wir uns morgen am Spätnachmittag. Ich komme auf dich zu." Bevor er sich verabschiedet, berührt er mich noch einmal an meiner rechten Schulter und massiert mit seinem Daumen sanft den Stoff meiner Strickjacke. „Du wirst deine Erlösung finden."
Ich sehe ihm nach, wie er durch die große Flügeltür verschwindet.
„In der Tat", flüstere ich.
Endlich können sich meine Finger zu zwei Fäusten zusammenziehen.
Ich hasse Constantin Saarfeld aus tiefstem Herzen. Und ich lebe nur noch aus einem einzigen Grund.
Um ihn zu töten.
Ich zählte bis zwanzig und öffnete meine Augen. Penelope war fort und es war meine Aufgaben, sie zu finden.
Unser Spiel hatte begonnen.
Eine Gänsehaut schlich sich an meinen Armen hinab und ließ die feinen Härchen an ihnen zu Berge stehen. Unter meiner Haut begann es zu kribbeln, so als befänden sich tausende von Ameisen auf Wanderschaft.
Werde ich die Hinweise erkennen, die Penelope mir hinterlassen hat? Werde ich sie deuten können, damit sie mich zu ihr führen?
Aufgeregt sah ich mich um. Ich stand in dem langen Flur im Erdgeschoss und schaute hinüber zu dem Empfangsbereich, in dem unsere Schuhe auf einem breiten Regal aneinandergereiht waren. Tatsächlich waren sie noch nicht in Umzugskartons verpackt. Dabei würden wir morgen bereits zu unserem neuen Zuhause aufbrechen. Ich schob meine wehmütigen Gedanken über unseren Abschied beiseite und wollte ich mich fürs erste nur auf die Suche nach Penelope konzentrieren.
Hatte sich meine Schwester im Haus versteckt oder war sie hinausgerannt? Ich überlegte, ob ich das Geräusch einer sich öffnenden und wieder schließenden Tür vernommen hatte, doch wollte mir meine Erinnerung - war sie auch erst wenige Sekunden alt - nicht weiterhelfen. Ich musterte die Schuhe und auf einmal fiel mir auf, dass Penelopes gelbe Gummistiefel fehlten. Sie hatte das Haus also verlassen. Ich schlüpfte in meine Windjacke, zog mir selbst mein Paar Gummistiefel an und ging ins Freie. Doch wie sollte ich sie nun finden? Wo befand sich der nächste Hinweis, der mir dabei helfen würde?
Ich war erst am Anfang meiner Suche.
Mit geschlossenen Augen inhaliere ich regelrecht den Duft, der mich in seinen Bann zieht und mir das Versprechen gibt, Penelope sei hier gewesen. Unfähig, mich auch nur einen Schritt zu bewegen, knabbere ich an der Frage, was meine Schwester zurück in das Haus unserer Eltern geführt haben könnte. Steckst du in Schwierigkeiten, Nelo? Warum hast du uns verlassen? Was ist mit dir passiert?
Ich öffne die Augen und bemerke, dass sie voller Tränen sind, die in zwei Rinnsalen an meinen Wangen hinabfließen. Der Moment ist so unwirklich und doch so intensiv, dass ich jede Selbstbeherrschung verloren habe und bitterlich weine. Mit den Ärmeln meiner Jacke streife ich mir mehrmals über mein Gesicht und versuche damit, die Fassung wieder zu gewinnen.
Wer wird mir schon glauben, wenn ich von meiner Beobachtung im Garten erzähle und wie ich das Parfüm meiner Schwester erkannt habe? Egal, wem ich davon berichte, wird vermuten, dass ich halluziniere. Und doch pocht mein Verstand darauf, dass ich der Wahrheit auf der Spur bin.
Das Knirschen der Tür im Flur schreckt mich auf. Obwohl es leise war, reicht es aus, um mir zu verraten, dass sich jemand da draußen befindet. Ich halte den Atem an und höre, wie hastige Schritte die Treppe hinabjagen.
Sofort eile ich aus dem Zimmer und sehe, wie die Tür, zuvor durch einen kräftigen Ruck geöffnet, langsam zurückschwingt. Im selben Moment wird mir bewusst, dass sich jemand im Badezimmer versteckt haben muss, denn auch dessen Tür steht nun offen und mein Blick fängt sich in den weißen Fliesen, die das Licht aus dem Flur in milchigem Schimmer reflektieren.
Von dem Instinkt gelenkt, den Eindringling zu fassen, schieße ich regelrecht die Treppe hinab und habe alle Mühe, nicht über meine eigenen Füße zu stürzen und damit das Gleichgewicht zu verlieren.
Im Erdgeschoss angelangt, sehe ich mich irritiert um. Irgendjemand muss die Person identifizieren können, die hier gerade herab gerannt kam - so bin ich zumindest der festen Überzeugung. Doch haben sich alle Gäste im Wohnzimmer versammelt und lauschen den Worten meines Vaters. Niemand hat also bemerkt, wer der Eindringling ist, der sich oben im Zimmer meiner Schwester umgesehen hat. Der Fremde ist verschwunden; er hat das Haus verlassen und ist in den Schutz der Nacht eingetaucht. Ich werde ihn - oder sie - unmöglich verfolgen können.
„…jede Familie hat ihre Bürde und jede davon ist so unterschiedlich wie besonders. Unsere ist es, Penelopes Geschichte anzunehmen und mit ihr zu leben", höre ich Vater sprechen.
Ich verschränke die Hände hinter dem Kopf und versuche mich, die Fingerspitzen tief in meinen Haaren vergraben, selbst zu beruhigen. Mein Blick wandert die Treppe zurück nach oben und ich sehe, wie Licht durch den schmalen Türspalt durchsickert. Mit schweren Schritten kehre ich zurück ins Obergeschoss und wende mich dem Badezimmer - dem Versteck des Eindringlings - zu.
Ich schalte auch hier die Deckenbeleuchtung ein und mustere die wenigen Quadratmeter. War sich die Person dem Risiko bewusst, das sie mit der Wahl ihres Verstecks eingegangen ist? Ich habe zuerst in Penelopes Zimmer nach Spuren des Fremden gesucht, doch genauso hätte ich jeden anderen Raum danach überprüfen können, ob sich der Eindringling irgendwo verborgen hält. Ich ärgere mich über meine Dummheit, dem Impuls, gleich dem Zimmer meiner Schwester die volle Aufmerksamkeit zu schenken, nachgegeben zu haben.
Das Badezimmer liefert mir keine Anhaltspunkte, wer der Fremde ist oder was er gesucht haben könnte. Schon möchte ich umkehren, da sehe ich, wie kleine Wassertropfen den Rand des Waschbeckens säumen. Ich fahre mit den Fingern über das Keramik und mir wird schlagartig bewusst, dass sich der Eindringling hier - wenn auch nur kurz und eilig - gewaschen haben muss. Das Handtuch neben den Armaturen ist feucht und unterhalb des Seifenspenders hat sich eine kleine schmierige Pfütze aus Seifenresten gebildet.
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