Meine Mutter umarmt mich kurz und ich rieche den Alkohol in ihrem Atem. Je mehr sie trinkt, desto intensiver versucht sie, höflich zu sein, sich gewählt auszudrücken und ihre Haltung zu wahren. Viele mag sie damit täuschen, aber ich durchschaue ihr Verhalten, weil ich es in den letzten beiden Jahren regelmäßig erlebt habe. Und so, wie mein Vater immer wieder kurz zu uns herüberschaut, hat auch er bereits bemerkt, dass sie nicht mehr ganz nüchtern ist.
„Wie schön, dass du hier bist, Gregor", haucht sie in mein Ohr. „Hast du schon etwas gegessen? Im Esszimmer ist eine große Auswahl an Finger Food und Antipasti."
„Gute Idee", stimme ich ihr zu und deute symbolisch auf meinen Bauch. Zumindest kann ich damit meine Zeit totschlagen, denke ich mir und steuere das Buffet an, was meine Mutter bestellt hat. Das Angebot ist riesig und übertrieben. Anstatt unsere Gedanken über Penelope auszutauschen, mache ich mich daran - wie alle anderen Gäste - einen Teller mit Hackbällchen, kleinen Quichetörtchen, Schinkencroissants, Oliven, Käse, Baguette und Spießen aus gegrilltem Fleisch und Gemüse zu beladen. Ich stelle mich damit in die Nische neben dem Klavier meines Vaters, an dem er einst Penelope das Spielen beibrachte, und hoffe unsichtbar zu werden. Ohne Hunger esse ich und sehe dabei zu, wie sich die Anwesenden in ausgelassener Stimmung unterhalten.
Ich frage mich, ob ich der Einzige bin, der bemerkt, wie grotesk diese Feier ist. Theodor und Marietta Ahrendt wollen der Welt deutlich vermitteln, wie stark und optimistisch sie sind. Dass das Leben weitergeht, egal welche Schläge das Schicksal für einen bereithält.
„Gregor!", höre ich jemanden meinen Namen rufen und beuge mich leicht nach vorne, um in Richtung Flur schauen zu können. Meine Stimmung hebt sich etwas, denn tatsächlich finden sich unter den Gästen auch zwei Personen, die Penelope nicht nur flüchtig kannten. Ihre langjährige Freundin Emma und ihre ehemalige Mitbewohnerin Sophie.
Emma läuft eilig auf mich zu, während Sophie sich gleichzeitig neugierig und etwas verlegen im Haus meiner Eltern umsieht.
„Wie geht es dir?", fragt mich Emma, während sie mich umarmt. Ihre langen, kastanienbraunen Haare, fallen glatt über ihre von einem schwarzen Spitzenkleid bedeckten Schultern. Sie verströmen den angenehmen Duft von Kamille und für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und inhaliere ihn regelrecht.
„Schau dich um", deute ich mit einer Hand in Richtung des Buffets und der zahlreichen Personen, die darum verteilt stehen „wenn meine Eltern den Preis für Souveränität in Krisen gewinnen wollen, haben sie durch diese Veranstaltung ihren Ehrgeiz bewiesen." Ich lächle bitter und beiße in ein Stück gegrilltes Fleisch.
„Es ist furchtbar", gibt Emma zu und streicht mir über den Arm. „Als Sophie und ich hergekommen sind, dachte ich, wir sind auf einer Cocktailparty der städtischen Schickeria gelandet." Ihre braunen Augen sehen zu mir auf. „Ich hoffe du weißt, dass wir Nelo nicht vergessen… wir brauchen keine Feier, um sie…"
„Schon okay", versichere ich Emma. „Mir ist bewusst, dass für euch diese Veranstaltung nicht notwendig ist." Meine Augen beginnen zu brennen und ich kämpfe gegen den Wunsch an, aufzuschreien.
„Hey", gesellt sich Sophie zu uns. Auch sie umarmt mich kurz. „Ist es falsch zu sagen, dass ich von dem Haus deiner Eltern wirklich begeistert bin? Ich fühle mich wie Aschenputtel, die zu einem Ball darf", gesteht Sophie und Emma und ich lachen kurz.
„Die Feier allein schon ist der reinste Hohn", gebe ich zu. „Du kannst also völlig unbekümmert unpassende Gedanken äußern."
„Penelope hatte nicht erzählt, wie ihr beide aufgewachsen seid… ich meine, in was für einer Villa", verrät Sophie.
„Vermutlich war es für sie nicht wichtig, zumal sie bereits Ende siebzehn war, als wir hierherzogen. Nelo war niemals darauf aus, ein Leben mit erlesenem Komfort und überzogenem Wohlstand zu führen. Sie hatte andere Ziele, die nichts mit Reichtum zu tun hatten. Ich bin mir sicher, ihr gefiel das Leben in eurer WG weitaus besser als in den Zimmern dieses Hauses."
„Aus diesem Grund wollte sie auch Ärztin werden", stimmt Emma mir zu. „Um anderen zu helfen. Darin sah sie ihre Aufgabe; ihre Bestimmung."
Wir sprechen in der Vergangenheit über sie, schießt es mir durch den Kopf. Jedes Wort klingt so, als liege Penelope in einem Grab. Ich mustere Emma und Sophie und auf einmal wirken ihre dunklen Kleider wie die Garderobe für eine Beerdigung. Sie erscheinen damit auf mich genauso fehl am Platz wie die elegant gekleideten Freunde meiner Eltern. Mir wird seltsam heiß unter meiner Haut und ich zupfe am Kragen meines T-Shirts herum, weil ich glaube, der Stoff schnürt mir die Luft ab.
„Wenn ihr beide mich kurz entschuldigt", bahne ich mir den Weg an Emma und Sophie vorbei. Zielstrebig laufe ich auf den Flur zu, um von dort aus hinaus ins Freie zu gelangen. Diese Feier ist schrecklich und ich spüre deutlich, wie jede weitere Minute mir zusetzt.
Mein Blick fokussiert die Klinke der Haustür und als ich nach ihr die Hand ausstrecke, halte ich inne.
Ich schaue zurück und sehe, wie sich mein Vater mit einem Gast unterhält, der offenbar noch nach mir eingetroffen ist. Sofort beginnt Wut in mir aufzukeimen und obwohl ich hätte damit rechnen müssen, bin ich doch fassungslos ihn hier zu sehen. Sebastian Schönbrecht, Penelopes Exfreund und eines der größten Arschlöcher, die ich - so bin ich mir sicher - in meinem Leben kennen lernen durfte, steht in seiner Businessmontur mit gepflegtem Drei-Tage-Bart und modischem Kurzhaarschnitt im Flur und nippt an einem Glas Mineralwasser. Er unterstreicht damit sein Saubermannimage. Meine Eltern sehen in ihm den perfekten Schwiegersohn, doch ist dieser Traum inzwischen geplatzt. Etwa fünf Monate nachdem Penelope verschwand, erschien Sebastian mit einer neuen Frau an seiner Seite in der Standpauke . Ich saß an der Theke und sah schockiert dabei zu, wie er für sich entschieden hatte, nicht länger darauf zu hoffen, Penelope könnte zurückkehren. Sebastian hatte immer wieder betont, wie tief seine Liebe zu meiner Schwester sei. Der Beweis, was Tiefe für ihn bedeutet, hatte er mir an jenem Abend geliefert. Als mich Sebastian bemerkte, schien es ihm unangenehm zu sein, so als hätte ich ein Kind beim Naschen erwischt. Er bezahlte die beiden Longdrinks, winkte mir kurz zu und verließ mit seiner neuen Flamme die Kneipe. Sicherlich fragte sie sich, warum er es plötzlich so eilig hatte, wieder zu gehen.
Noch hat er mich nicht bemerkt. Würde er mich jetzt ansprechen, so bin ich mir sicher für nichts garantieren zu können. Ich schaue hinab und bin selbst erstaunt, wie sehr meine Hände zittern. Ich schätze Sebastian stärker als mich ein, doch zumindest hätte ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite, wenn meine Faust aus seiner Nase eine Blutfontäne schießen lässt. Wie würden Theodor und Marietta Ahrendt reagieren, wenn ihr Sohn völlig ausrastet, während sie beide doch so besonnen und vernünftig mit ihrem furchtbaren Schicksal umgehen? Meine Wut auf Sebastian richtet sich ruckartig gegen meine Eltern und dass sie es tatsächlich für notwendig halten, ihn einzuladen. Eilig wende ich mich der Haustür zu, trete hinaus in die milde Nachtluft und erweise uns damit allen einen großen Gefallen. Auf keinen Fall möchte ich mit Sebastian auch nur ein Wort wechseln.
Ich umrunde das Haus und lasse mich im Garten auf einer Bank aus weiß gestrichenem Holz nieder, die vor dem Stamm eines Kirschbaums thront. Hier verstummt das Stimmengewirr völlig und beim Betrachten des Vollmondes und der Milliarden Sterne am Firmament finde ich seit der Ankunft auf der Feier erstmals etwas Ruhe. Lange werde ich mir diese Auszeit nicht gönnen dürfen, denn obwohl sich so viele Gäste im Haus befinden, kreist in mir die Vermutung, dass meine Eltern meine Abwesenheit bemerken und problematisieren werden.
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