Welches Motiv hätte sie also dazu gebracht, zu verschwinden?
Die Ermittler nahmen das Leben meiner Schwester unter ihr Sezierbesteck und setzten ihr Skalpell an jedem Detail an, das sie in Erfahrung brachten. Sie überprüften ihre Kreditkartenabrechnungen und Telefonate, durchstöberten ihre Emails und ihre Konten bei den gängigen sozialen Netzwerken. Befragten Familie, Freunde, Angehörige, Studienkollegen, Mitbewohner, Nachbarn. Aber sie entdeckten nichts. Wurde sie demnach das Opfer eines Gewaltverbrechens? Liegen ihre Knochen, die Überreste ihres geschändeten Körpers, irgendwo vergraben?
Penelope befand sich auf dem Nachhauseweg von ihrer Uni zu der Wohngemeinschaft, in der sie ein Zimmer bezog. Die Polizei fand, selbst als sie die letzten Stunden, an denen meine Schwester nach Zeugenaussagen gesehen wurde, rekonstruierten, keine Anhaltspunkte für eine gewaltsame Entführung.
Bei dem Gedanken, dass Nelo wie ausgelöscht wirkt, beginnt sich in mir eine eisige Kälte auszubreiten und gleichzeitig kämpfe ich gegen den Brechreiz an, der sich durch die Luftröhre hinauf in meinen Mund zieht.
Dr. Brunner hat mich darum gebeten, an unsere Gespräche zu denken. An die Möglichkeiten, die wir gemeinsam erarbeiten, damit ich nach vorne sehen und Penelopes Verschwinden als ein geschehenes Ereignis akzeptieren kann. Möglichkeiten, wie etwa das Wissen, dass sich meine Schwester für mich eine glückliche Zukunft wünschte. Penelope wollte für mich immer das Beste und nahm Anteil an den Höhen und Tiefen, die ich während meiner Schulzeit und zuletzt meines Studiums zu meistern hatte. Sie war für mich da, als mich vier Jungs die gesamte neunte Klasse über auf dem Kieker hatten und mich bei jeder erdenklichen Gelegenheit wegen meiner damals kinnlangen, schwarz gefärbten Haare als Tunte , Transe oder Emo-Schwuchtel beschimpften. Sie unterstützte mich bei der Frage, was ich mir für meine berufliche Zukunft wünsche und ermutigte mich dazu, mein Interesse an Journalismus zu verfolgen. Und sie gab mir Halt, als die langjährige Beziehung mit meiner Freundin Julia zerbrach, nachdem diese sich dazu entschieden hatte, in Valencia zu leben und ich es mir - nach all den Umzügen meiner Kindheit - nicht vorstellen konnte, abermals alles hinter mir zu lassen. Ich fokussiere mich auf die Annahme, dass ich keinen Einfluss auf die Geschichte meiner Schwester nehmen konnte - egal, ob ihr Verschwinden aus freien Stücken geschah oder sie Opfer eines Verbrechens wurde.
Ich weiß zwar, dass ich damit nur ein Kartenhaus errichte und ein kleiner Windhauch genügen wird, um das fragile Konstrukt wieder zum Einsturz zu bringen. Doch für diesen Moment finde ich dadurch zur Ruhe zurück. Während sich meine Körperhaltung entspannt und ich leise im langsamen Rhythmus tief ein- und ausatme, bemerke ich, wie Leo mich sorgenvoll ansieht.
„Schaffst du das nachher?", fragt er. „Wenn es dir schlecht gehen sollte, melde dich bei mir. Du brauchst heute auch nicht alleine bleiben und kannst gerne bei Ayleen und mir übernachten."
„Danke", beteuere ich einsilbig und versuche dennoch damit zum Ausdruck zu bringen, wie sehr ich sein Angebot schätze. „Ich denke, ich komme klar. Meine Eltern erwarten ziemlich viele Gäste. Sicherlich fällt es ihnen nicht auf, wenn ich nach zwei oder drei Stunden wieder verschwinde." Ich trinke den letzten Rest Whiskey Sour, stelle das Glas mit Nachdruck auf die Theke und zeige mich entschlossen. „Schätze, es wird Zeit."
Das Haus meiner Eltern Theodor und Marietta Ahrendt steht in einer der noblen Gegenden der Stadt. Umrahmt von Rasen, hellgrauem Kies und hoch gewachsenen Bäumen, liegt es hinter einem kunstvoll aus dunkelgrauem Eisen gefertigten Zaun. Wahrlich verdient es den Titel Stadtvilla . Bevor meine Eltern das Anwesen kauften, gehörte es einer Gräfin, die es hauptsächlich für Aufenthalte während des Sommers nutzte und die Wintermonate auf Teneriffa verbrachte. Nach ihrem Tod stand es lange leer und durch seine Beziehungen erhielt mein Vater schließlich den Zuschlag. Ich war damals fünfzehn Jahre alt, als wir hier ankamen und erfuhr, dass es unser letzter Umzug sein wird. Zunächst wollte ich das Wort meiner Eltern nicht für bare Münze nehmen und erst als mein Vater die Festanstellung an einem großen pharmazeutischen Institut annahm, fasste ich Vertrauen darin, dass wir hier wirklich Wurzeln schlagen würden.
Ich laufe über den knirschenden Kies und bleibe, bevor ich die wenigen Stufen zur Haustür hinaufnehme, kurz stehen. Durch die geöffneten Fenster dringt ein Meer aus Stimmen hinaus ins Freie und ich vermute, dass ich sicherlich einer der letzten Gäste bin, die meine Eltern zu Erinnerungsfeier für Penelope eingeladen haben. Mein Gefühl drängt mich dazu, umzudrehen und mich nicht dem hinzugeben, was meine Eltern aus dem Verschwinden meiner Schwester zu konstruieren versuchen. Sie möchten der Welt und sich vermitteln, dass trotz des gravierenden Verlusts, den wir zu erleiden hatten, all die schönen Erinnerungen an Penelope überlebt haben und in unseren Herzen für immer verweilen. Und dass wir - wenn wir Penelope auch nie aufgeben werden - unser Leben fortführen. Es ist eine einzige Lüge. Beide verdrängen ihre wahren Empfindungen und sind nicht dazu fähig, sich dem unerklärlichen Schicksal meiner Schwester zu stellen. Der Einzige aus meiner Familie, der sich zu einer Therapie entschlossen hat, bin ich. Dr. Brunner hat mir bereits mehrmals angeboten, meine Eltern zu einem Termin einzuladen, doch lehnen beide es vehement ab, mich zu begleiten. Stattdessen flüchtet sich mein inzwischen pensionierter Vater in Vorträge an Universitäten und Krankenhäusern und meine Mutter in dem Organisieren von Wohltätigkeitsveranstaltungen. Und während mein Vater aufgrund seiner Vorträge regelmäßig verreist und dadurch jeden Gedanken an Penelope ignorieren kann, bedient sich meine Mutter gerne an dem gewaltigen Vorrat erlesenem Rotwein im Keller.
„Zieh das jetzt durch", ermahne ich mich selbst und gehe den Rest zur Hautür. Schon möchte ich klingeln, da öffnet sich die Tür und ich schaue in die prüfenden, blaugrauen Augen meines Vaters.
„Gregor, da bist du ja. Ich habe dich gerade eben entdeckt", deutet mein Vater mit dem Kinn in Richtung des Esszimmers, von dem er mich aus in der Einfahrt stehend bemerkt hat. Unter einem dunkelblauen Jackett trägt er ein schlichtes weißes Hemd und dazu eine passende dunkelblaue Stoffhose. Seinem modischen Kleidungsstil und noch vollem, rotbraunen Haar verdankt er, dass viele ihn weitaus jünger schätzen als Mitte sechzig.
„Hallo Papa", begrüße ich ihn, lasse die Berührung seiner Hand auf meiner Schulter - eine schwache Geste des Willkommens - zu und hänge meine Jacke an die Garderobe.
„Es sind fast alle hier. Komm, begrüß deine Mutter. Sie steht bei ihren Freundinnen im Wohnzimmer."
Vater schiebt mich vor sich her, bis ich an der Schwelle zum Wohnzimmer stehe und er im Kreis seiner Kommilitonen, ebenfalls langjährige Freunde, in eine rege Diskussion aus Fachjargon einsteigt.
Meine Mutter hat ihre dunkelblonden Haare zu einem Dutt nach oben gesteckt. Sie trägt ein zur Garderobe meines Vaters passendes Cocktailkleid und ihre geliebte Perlenkette; ein Erbstück meiner Großmutter.
Bereits meine Ankunft auf der Erinnerungsfeier verläuft genauso, wie ich es mir ausgemalt habe. Mein Vater begrüßt mich ohne zu fragen, wie es mir geht. Denn mein Empfinden, so ist er sich bewusst, ist mit dem verbunden, was er so meisterhaft aus seinem Leben drängt. Stattdessen pflegt er lieber belanglose Konversation über belanglose Themen. Meine Mutter lenkt ebenso geschickt die Gespräche zu ihren Gunsten. Aus Höflichkeit wird jede ihrer Freundinnen nur dann über Penelope sprechen, sofern Marietta Ahrendt die Bereitschaft hierfür zeigt. Wenn dies eine Erinnerungsfeier für meine Schwester ist - eine Feier genau an dem Tag platziert, an dem sie vor zwei Jahren verschwand - so obliegt es einzig meinen Eltern, die Erinnerungen heraufzubeschwören, nicht aber den Gästen. Als mich meine Mutter entdeckt, schenkt sie mir ihr bestes Lächeln, entschuldigt sich bei ihren Freundinnen und läuft zu mir herüber. Bevor sie bei mir ist, nippt sie an dem Rotwein ihres fast leeren Glases. Wie viel sie bereits getrunken hat, kann ich nur vermuten.
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