Nocturnia
Die langen Schatten
Von Torsten Thoms
www.kreativ-reise.de
Imprint
Nocturnia
Die langen Schatten
Autor Torsten Thoms
Copyright: © 2012 Torsten Thoms
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-4068-9
„Helden werden nicht geboren, sie werden gemacht aus Blut, Schweiß, Tränen und der ungebrochenen Entschlossenheit, die eigenen Ängste zu besiegen.“
Vincus DeRovere
Der Mond stand hell und voll am Himmel und beleuchtete die fernen Berge auf der einen und die Stadt auf der anderen Seite. Sein pockennarbiges Antlitz schien zu grinsen, denn er beherrschte das Firmament, an dem die Sterne neben ihm verblassten.
Die Landschaft lag ruhig vor der weiblichen Gestalt, die aus ihrem Gemach nach draußen schaute. Sie liebte den Ausblick, doch in dieser Nacht rückte er in den Hintergrund, wurde zur unbeachteten Kulisse in dem Stück, das ihr bevorstand und in dem sie die Hauptrolle inne haben sollte. Juchata spielte mit dem schwarzen Dolch, ein Geschenk ihres Vaters zur Weihung. Eine spitze Klinge, wie aus Pech geschmiedet, doch härter und schärfer als alles, was sie bislang gekannt hatte. Gab ihr der Ausblick aus ihrem Gemach sonst Ruhe, konnte sie ihn heute kaum ertragen. Mit einem Ruck zog sie die dunklen, schweren Vorhänge zu, die das Mondlicht vollständig aus dem Zimmer verbannten. Ihr schlanker Körper schmiegte sich an die Dunkelheit um sie herum. Ihre Augen sahen alles, nahmen jeden Winkel wahr, denn in der Finsternis fühlte sie sich wohl. Das Sonnenlicht ertrug sie nicht, denn die Nocturnen, zu deren Rasse sie gehörte, verbrannten unter den sengenden Strahlen.
Heute Nacht sollte sie wählen. Am liebsten hätte sie sich den Dolch in die zarte Brust gerammt, nur um dieser Entscheidung aus dem Weg zu gehen. So viel wusste sie jedoch schon, dass der Stahl nur eine hässliche Narbe hinterlassen würde, denn niemals könnte sie den Mut aufbringen, ihre Tat auch zu vollenden. Zu sehr liebte sie das Leben, auch wenn es momentan unerträglich und aussichtslos schien.
Verzweifelt begutachtete sie die Klinge, ließ die Kante über den Daumen rutschen, die so scharf war, dass sie ihre winzigen Härchen an den Armen mit einem Ruck abrasieren konnte. Sie legte ihre Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Ihre Vermählung war das wichtigste Ereignis in der Familie seit Jahren. Zwei Freier hatten um ihre Hand angehalten, beide stattliche Nocturnen, die aus ehrwürdigen Familien stammten. Zum einen Calavus, Sohn des Pelates Borja. Ein Nocturn von eleganter Gestalt, mit blau-hartem Blick aus einem bleichen, ebenmäßigen Gesicht, das eine Spur Grausamkeit und Mystik in sich vereinte. Calavus wäre eine ausgezeichnete Wahl, seine Intelligenz war schon jetzt, in jungen Jahren, legendär. Das taktische Kalkül, seine geschmeidigen Bewegungen und die klugen, messerscharfen Worte hatten ihm bereits mehrfach den Respekt der Älteren eingebracht, die in ihm die Zukunft sahen, auch wenn sie das niemals zugegeben hätten. Sein Vater bildete ihn zu einem Politiker aus, der es rhetorisch mit jedem Gegner aufzunehmen verstand. Seine beinahe schon hinterlistige Art wurde von seinen Gegnern gefürchtet, die, wenn sie konnten, seine Unterstützung lange vor wichtigen Abstimmungen sicherten, um nicht im entscheidenden Moment über seinen Scharfsinn zu stolpern. So umworben strahlte der junge Calavus ein beinahe schon unnatürliches Selbstbewusstsein aus, das oft an Arroganz zu grenzen schien. Zwar behandelte er andere mit dem größtmöglichen Respekt, doch war man sich seiner nie sicher, denn die Ironie war beißend, der Sarkasmus feinzüngig und oft nur von den Intelligentesten unter den Nocturnen zu verstehen.
Trotz seiner vielen Vorzüge war er für Juchata ein fast schon geschlechtsloses Wesen, das sie durchschaute. Denn hinter seiner süffisanten Art und seinen verletzenden Bemerkungen stand ein Nocturn, der tief verunsichert war und deshalb laufend verbal attackierte, auch wenn er sich dessen kaum mehr bewusst war. Wenige Male hatte er sie besucht, um sie zu umwerben. Seine Furcht vor ihr war nur Juchata selbst aufgefallen und sie war sicher, dass sie, sobald sie heirateten, seine schlimmste Gegnerin werden würde. Nur einer der beiden konnte siegen, durch Unterdrückung und Macht, die sich einstellt, wenn die Partner sich an Intelligenz und Rang in nichts nachstehen. Und vor allem wissen, wo sie den anderen anpacken konnten. Denn die Kenntnis um die Schwäche des anderen ist ein gefährliches Gut, das man hüten muss oder zur rechten Zeit gebrauchen. Calavus war ihr nicht unsympathisch, doch seine Wahl hätte für sie und ihr weiteres Leben weitreichende Konsequenzen. Zwar achtete sie seinen Intellekt, doch sah sie auch die Grausamkeit in seinen Augen, der sie nicht entgehen würde. Er würde nie aufgeben, sie zu beherrschen, nie aufhören mit ihr zu kämpfen und sie am Ende unterdrücken.
Auf der anderen Seite stand Gladicus Magnus, dessen Familie noch einflussreicher, noch stärker war als die der Borja. Sein Vater Pelleus hatte schon viele Jahre den Posten des Tragus, des höchsten Führers der Nocturnen, inne, den er sich mit Vincus DeRovere, ihrem Vater, teilte. Gladicus war einige Jahre älter als sie, ein Bär von einem Nocturn, der sich in unzähligen Schlachten mit den Namenlosen geschlagen und einen Ruf als furchterregender Krieger verdient hatte. Was ihm an Intelligenz fehlte, machte er durch Mut und Ausdauer wett. Sein tadelloses Verhalten hatte ihm die bedingungslose Bewunderung der Truppen eingebracht, die ihn wie einen Gott verehrten. Als Führer im Feld war Gladicus immer in vorderster Front zu finden, wo er alle Schläge auffing, die auf seine Männer einprasselten und lieber selbst einsteckte, als einen seiner Männer verletzt zu sehen. Wo er und seine Elitetruppe, die Megantorier, auftauchten, herrschte deshalb Angst und Schrecken und schon manch ein Gegner hatte beim bloßen Auftauchen des Gladicus die Segel gestrichen, so furchterregend war sein Ruf. Seine Härte auf dem Schlachtfeld wurde begleitet durch eine fast schon peinliche Schüchternheit im öffentlichen Leben. Konnte er vor seinen Leuten brutal-motivierende, wenn auch kurze Reden schwingen, fehlte ihm diese Fähigkeit, sobald er vor dem Parlament stand, wo er sich bereits mehrfach von völlig unerfahrenen jungen Adhiben, den Mitgliedern des Nocturnen Parlaments, hatte vorführen lassen. Juchata war einige Male mit ihm zusammen gewesen, um ihn im Rahmen ihrer Heiratswahl zu treffen. Dabei hatte sie in ihm ein fast kindliches Gemüt entdeckt, das in völligem Gegensatz zu seiner imposanten Erscheinung stand. Er hatte sie übervorsichtig behandelt, fast schon ehrerbietig, hatte sich untergeordnet, was ihr zwar geschmeichelt hatte, doch auch unmännlich vorgekommen war. Leicht könnte sie diesen gutmütigen Riesen beherrschen, er würde ihr aus der Hand fressen wie ein Schoßhündchen, doch bereits nach wenigen Treffen langweilte sie sich fast zu Tode mit ihm, der ihrer Intelligenz nicht gewachsen war.
Juchata blinzelte. Auch wenn der Mond schon lang am Himmel stand und die Vorhänge sie schützten, schmerzten ihre Augen, die nicht sehen wollten, was auf sie zukam. Schon bald würde ihr Vater nach ihr rufen lassen, dann würde Baribas, der langjährige Hausdiener der Familie, sie holen und in das Hochzeitsgemach bringen, wo sie auf ihre beiden Freier treffen würde. So beschützt sie auch in ihrem Haus aufgewachsen war, konnte es sie dennoch nicht vor ihrem Schicksal bewahren. Sie liebte ihre Gemächer. Die gotischen Bögen wölbten sich über ihr, die dunklen Steine rochen nach der unendlichen Zeit, die diese gesehen hatten. Juchata schaute in den Spiegel, der sich über eine gesamte Wand erstreckte, ein reich verziertes Werk mit einem schwarzen Holzrahmen, der über und über mit geschnitzten bizarren Kreaturen bedeckt war.
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