Meine Eltern haben hier nichts verändert. Deshalb wirkt das Zimmer wie der Ausstellungsraum eines Museums. Kurz bevor Penelope verschwand, war sie hier zu Besuch und hatte übernachtet. Wir hatten miteinander über unsere Smartphones Nachrichten ausgetauscht und sie sendete mir ein Photo, wie sie auf ihrem Bett saß und in die Kamera lächelte. Es ist die letzte Aufnahme, die ich von meiner Schwester habe. Sie ist für mich so kostbar.
Nun, da ich niemanden finde, beginnen Zweifel in mir zu wachsen. Habe ich wirklich jemanden gesehen oder hat mir meine Müdigkeit einen Streich gespielt? Hat mich die Hoffnung, Penelope könnte aus dem Nichts auftauchen - genau zwei Jahre nach ihrem Verschwinden -, fehlgeleitet?
Ich schaue aus dem Fenster hinab in den Garten und bin kurz davor, mir meinen Trugschluss einzugestehen. Erschöpft setze ich mich auf das Bett und vergrabe das Gesicht in meinen Händen.
„Was bin ich nur für ein Idiot", äußere ich laut und mir wird bewusst, welch langer Weg noch vor mir liegt, bis ich meine Therapie bei Dr. Brunner beenden kann.
Ich richte mich auf und entscheide mich zurück ins Erdgeschoss zu gehen. Vielleicht bietet sich mir eine Chance, die Feier zu verlassen. Meiner Mutter kann ich jetzt unmöglich erneut unter die Augen treten.
An der Türschwelle halte ich abrupt inne. Ich atme tief ein und auf einmal kehrt die Gewissheit zurück, dass ich mich nicht getäuscht habe. Jemand war hier oben. Wie erstarrt, heftet sich mein Blick in Richtung des Fensters.
Warum habe ich es nicht gleich bemerkt?
Dabei ist er unverkennbar. Der Duft von Penelopes Parfüm erfüllt das gesamte Zimmer.
Ich sehe mein Spiegelbild. Sehe die Frau, mit den kinnlangen, braunen Haaren und den hellblauen Augen. Sehe das Netz aus kleinen Sommersprossen, das über meinen Nasenflügeln liegt. Sehe die helle, leicht rosige Haut und die Narbe an meiner rechten Wange, die ich dem Schnitt einer Glasscherbe schulde. Sehe meine vollen Lippen, die schon manchen Mann zu einem Kuss verführen wollten. Und ich sehe meinen drahtigen Körper, der in den letzen Monaten an Gewicht verlor, bevor er sich in diesem mageren Bereich wieder stabilisiert hat. Ich mag schwach wirken, doch habe ich trainiert und bin keine wehrlose junge Frau. Mein Erscheinen täuscht und stellt der einzige Trumpf dar, über den ich verfüge.
„Mein Name ist Maiah Winter", spreche ich laut der Person im Spiegel entgegen. Es ist wichtig, dass ich meinen Namen mindestens zwei Mal am Tag bewusst höre. Er macht meine Existenz, meine Persönlichkeit aus. An ihn ist geknüpft, wer ich und warum ich hier bin. Auf keinen Fall darf ich ihn vergessen. Denn der Ort, an dem ich mich befinde, hat - so wurde mir seit meiner Ankunft ersichtlich - das Potential, die eigene Identität zu rauben. Es ist ein Drahtseilakt, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aber ich habe keine andere Wahl, wie mich der Gefahr zu stellen. Ich kann und werde nicht umkehren, bis ich mein Ziel erreicht habe.
Für gewöhnlich verinnerliche ich meinen Namen am Morgen nach dem Aufstehen und - so wie jetzt - in der kurzen Ruhephase vor dem Abendessen. Ich ziehe mir ein weißes T-Shirt und eine graue Strickjacke über und wähle eine dunkle, blickdichte Strumpfhose und einen ebenfalls grauen, knielangen Rock. So trist wie meine Kleidung ist, so farblos fühle ich mich. Jeder, der hier lebt, hält sich an diese reizarme Kleiderordnung, doch im Gegensatz zu mir sehen die anderen in ihr einen Schutz.
Ich öffne die Tür meines mit Tisch, Stuhl, Bett und Bücherregal spartanisch eingerichteten Zimmers und folge dem mild erleuchteten Korridor zur Treppe hinab in die große Empfangshalle im Erdgeschoss. Gemeinsam mit all den anderen Bewohnern nehme ich im Speisesaal Platz. Der Stuhl am Tischende ist noch leer und wir warten in vollkommener Stille.
Die große Flügeltür dahinter öffnet sich und Constantin tritt ein. Er ist, wie so häufig, völlig in weiß gekleidet und seine grauschwarzen Haare sind glatt nach hinten gekämmt. Die oberen beiden Knöpfe seines Hemdes sind offen und geben den Blick auf eine Kette frei, an der ein Medaillon ruht. Constantin trägt sie immer und befindet er sich in Gedanken, streifen seine Finger über die glatte Oberfläche des ovalen Anhängers, in dessen Innerstes er - so bin ich überzeugt - etwas für sich sehr Wertvolles verborgen hält. Es ist eines der zahlreichen Geheimnisse, die diesen Ort umgeben.
Hier lebt die Gemeinschaft ; ein Zuhause für gequälte Seelen, die ihrer Vergangenheit entrinnen und ein neue Existenz beginnen möchten. Unter den Bewohnern finden sich Süchtige, Verwahrloste, Opfer von Gewaltverbrechen und Personen, die lange vor sich selbst auf der Flucht waren. Sie alle haben in ihrem Leben Schmerz erfahren und das zumeist auf eine unerträgliche Weise. Kommen sie hier an, so suchen sie einen letzten Ausweg aus der Hölle, in die sie geraten sind. Constantin bietet ihnen eine Zuflucht. Gelingt es ihnen, sich an die Regeln der Gemeinschaft zu halten, dürfen sie bleiben und im Schutz des Refugiums auf eine bessere Zukunft hoffen. Sie alle lieben und ehren ihren Retter Constantin Saarfeld. Er ist alleiniger Erbe des Saarfeld-Imperiums; eines weltweit agierenden Unternehmens, das sich in zahlreichen Branchen einen mächtigen Einfluss erschlossen hat. Die Saarfeld-Gruppe investiert in die Forschung der unterschiedlichsten Bereiche und immer wieder munkeln die bösen Zungen der Presse, dass Constantin selbst bereits den Überblick verloren hat, für was sein Unternehmen eigentlich steht.
Der Gemeinschaft zollt die Öffentlichkeit dagegen kaum Interesse und Constantin nutzt seine gegründete Einrichtung weder, um sich als Wohltäter zu vermarkten, noch um damit Bewunderung für seine Person zu provozieren. Er scheint keinerlei Interesse an Lorbeeren zu haben. Nur einen einzigen Bericht über die Gemeinschaft konnte ich entdecken und in ihm fanden sich kaum Informationen über die Ziele dieser Einrichtung. Vielmehr wurde auf recht plumpe Weise spekuliert, ob Constantin Saarfelds eigene Vergangenheit das Fundament der Gemeinschaft begründet.
Constantin schenkt uns sein Lächeln, während seine moosgrünen Augen jeden am Tisch mit einem freundlichen Blick bedenken. Er tritt an seinen Stuhl, wünscht uns allen einen glücklichen Abend und bittet uns, mit dem Essen zu beginnen. Trotz der Geräusche von Besteck und Tellern und den zahlreichen, leisen Gesprächen ist der Raum weiterhin erfüllt von einer unglaublichen Ruhe.
„Möchtest du auch eine Scheibe Brot?", reißt mich Nicoletta aus meinen Gedanken, die ihren Platz mir gegenüber hat. Ich danke ihr und bediene mich aus dem Brotkorb, den sie mir einladend entgegenstreckt.
Nicoletta wurde von ihrem Vater, einem Alkoholiker, etliche Male verprügelt und fast ihr gesamtes bisheriges Leben gedemütigt. Als sie in der Gemeinschaft aufgenommen wurde, so berichteten mir die anderen, sah sie schrecklich zugerichtet aus und war, durch die jahrelange Strenge und die unzähligen Schläge ihres Vaters, völlig gebrochen. Nun hat sie sich wieder erholt und gewinnt zusehends das Selbstvertrauen zurück, ein wertvoller Mensch zu sein, der es verdient hat, glücklich zu werden.
Jeder am Tisch wäre an seinem eigenen Schicksal zu Grunde gegangen. Und nun sitzen wir alle beisammen, essen unser Abendbrot und genießen die Geborgenheit des Miteinanders .
Ich schmiere mir ein Butterbrot und nehme einen Bissen davon. Als ich kurz zur Seite schaue, bemerke ich, wie Constantin mich beobachtet. Ab und an sucht mich die Überlegung heim, ob er die Gedanken anderer lesen kann. Ich versuche ein kurzes Lächeln und wende mich instinktiv Nicoletta zu. Sie berichtet mir, wie ihre Kräuter, die sie in den Gewächshäusern der Einrichtung anpflanzt, gedeihen. Dabei versuche ich, Interesse zu bekunden und nicht noch einmal in Constantins stechende Augen zu blicken.
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