„Das hoffe ich“, warf Pierre ein, dem die Sorge um seine Schwester ins Gesicht geschrieben stand. Rob legte die Hand auf seinen Arm. „Ganz sicher.“ Er stand auf und streckte sich. „Ich werde mir jetzt ein Wasser holen, und dann sollten wir die schlafende Schönheit wecken.“
Pierre grinste in sich hinein. „Ich bin sicher, dass sie nicht mehr schläft. Wahrscheinlich schmollt sie noch.“
Suzie war völlig übernächtigt aufgewacht. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass die Dusche länger ausfallen würde als gewöhnlich. Nachdem sie ausgiebig geduscht und sich die Zähne geputzt hatte, legte sie ein wenig Make-up auf, zog sich Jeans und T-Shirt über und verließ ihr Zimmer. Doch ihre Schritte wurden immer langsamer je näher sie dem Wohnzimmer kam. Ihr Herz klopfte so sehr, dass sie dachte, es würde jeden Moment ganz aufhören zu schlagen. Zehn Jahre. Zehn lange Jahre hatte sie ihn nicht gesehen. Zehn Jahre, in denen sie oft von ihm geträumt hatte, sich oft gewünscht hatte, Pierre würde wenigstens einmal über ihn sprechen. Suzie wusste genau, dass sie Rob in ihrer Vorstellung perfektioniert hatte. Sie kannte ihn schließlich überhaupt nicht mehr. Er war zwanzig gewesen, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. In zehn Jahren konnte man sich verändern. Sie selbst war das beste Beispiel.
Unschlüssig starrte sie auf die geschlossene Wohnzimmertür, hinter der sie ihren Bruder mit jemandem reden hörte. Vielleicht war Rob dick, faul und unansehnlich geworden. Schließlich war er der Chef seiner eigenen Firma. Er hatte seine Leute, die die Arbeit erledigten. Kein Grund also, sich fit zu halten. Sie atmete noch einmal tief durch, öffnete dann mit einem Lächeln die Tür und betrat das Wohnzimmer.
Im ersten Moment blieb ihr der Mund offen stehen. Pierre unterhielt sich mit einem Mann, der tatsächlich sehr kräftig war und einen leichten Bauchansatz hatte. Er war groß und trug einen Anzug. Das einzige, was noch an den Rob von vor zehn Jahren erinnerte, waren die dunklen, allerdings jetzt militärisch kurz geschnittenen Haare.
Das sollte ihr Idol der letzten zehn Jahre gewesen sein? Suzie war platt. Dieser Mann, der vor ihr stand, hatte absolut nichts mit dem Mann ihrer Fantasien zu tun. Ihre Seifenblase zerplatzte mit einem lauten Knall, den nur sie hören konnte. Schnell verbarg sie ihre Enttäuschung hinter einem Lächeln.
„Suzie!“ Pierre kam auf sie zu und nahm sie kurz in die Arme. „Schön, dass du auch endlich kommst.“
„Hallo, Bruderherz.“
„Suzie. Du hast absolut nichts mehr mit dem schlaksigen Teenager von damals gemein.“
Seine Stimme war noch dieselbe wie damals. Sie hätte sie überall erkannt. Dunkel, sanft, nie laut. Und sie löste noch immer einen Schauer in ihr aus. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Stimme von hinter ihr gekommen war. Nicht von dem Mann, der vor ihr stand. Zögerlich drehte sie sich um und blickte in Augen, die an hellblaue Kristalle erinnerten, klar und ehrlich. Sein dunkles Haar trug er etwas länger als damals, sodass es sich im Nacken leicht kräuselte. Eine vorwitzige Strähne fiel ihm in die Stirn, und sie musste sich zusammenreißen, um sie nicht zurückzustreichen. Sein männlich, markantes Gesicht wurde von einem Dreitagebart umrahmt. Seine sinnlichen vollen Lippen, die Suzie schon ungefähr tausend Mal in ihren Träumen geküsst hatte, waren leicht geöffnet, als er sie anlächelte. Ihr Blick fiel auf seine breiten Schultern und glitt an seinem athletischen Körper hinab. Sie schluckte schwer.
„Es freut mich, dich endlich wiederzusehen.“ Suzie war unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Zehn Jahre hatte sie von ihm geträumt, und nun stand er vor ihr und zog sie in eine Umarmung. „Du bist eine sehr hübsche Frau geworden“, flüsterte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er sie wieder losließ.
Sag etwas, dachte sie verzweifelt.
„Wie lange ist es jetzt her?“, fragte er.
„Zehn Jahre“, entgegnete sie und stellte bestürzt fest, dass ihre Stimme belegt klang. Schnell hustete sie. Hoffentlich glaube er, sie hätte sich eine fiebrige Erkältung eingefangen, da sie spürte, wie sie unter seinem Blick rot wurde.
„Du bist wirklich eine Frau geworden. Nicht nur hübsch, sondern auch, wie ich von Pierre gehört habe, verdammt klug. Das ist eine gefährliche Mischung für uns Männer.“
Verlegen strich sie sich ihre langen Locken aus dem Gesicht. „Du hingegen hast dich kaum verändert.“ Gott sei Dank klang ihre Stimme wieder normal.
„Männer verändern sich nicht. Wenn überhaupt, werden wir verantwortungsvoller.“
Pierre lachte auf. „Da ist bei dir Hopfen und Malz verloren. Ich beneide Mira nicht um den Job, mit dir zusammenleben zu müssen.“
Rums! Suzie spürte, wie der Boden schwankte. Er hatte eine Freundin. Gleichzeitig schalt sie sich selber in Gedanken. Sie hatte ihn zehn Jahre nicht gesehen. Nur, weil er noch so verdammt gut aussah wie damals, hieß das nicht, dass er nicht ein arroganter Mistkerl geworden und seine Freundin wirklich nicht zu beneiden war.
„Hm“, entgegnete Rob in Richtung seines Freundes. „Sie hat es bestimmt nicht leicht. Aber anscheinend mache ich irgendetwas richtig. Wir werden nächstes Jahr heiraten.“
Das war nun definitiv zu viel Information für Suzie. Sie ließ sich in den nächsten Sessel gleiten und hustete, um den Klumpen, der ihr im Hals steckte, runterzuschlucken.
„Meinen herzlichen Glückwunsch. Ist sie schwanger?“
Suzie wünschte sich sehnlichst, ihr Bruder würde endlich den Mund halten.
Rob schüttelte den Kopf. „Wir wollen bis nach der Hochzeit warten. Sie möchte nicht mit dickem Bauch vor den Altar treten.“
Suzie konnte nicht verhindern, dass sie kurz schnaubte und verbarg es wieder einmal hinter einem Husten. Sie würde diesen Mann jederzeit und überall heiraten, dick oder nicht. Jetzt bist du völlig am Durchdrehen. Das ist nicht dein Fantasie Traummann, der vor dir steht. Das ist Rob aus Fleisch und Blut. Du kennst ihn nicht mal. Doch leider war sich Suzie ziemlich sicher, dass Rob sich nicht verändert hatte. Damit war er ihr Traummann. Da musste sie sich nichts vormachen. Ihr Traummann, der im nächsten Jahr eine andere heiraten würde. Dann würde sie sich ihn einfach aus dem Kopf schlagen. Sie hatte bereits zehn Jahre von ihm geträumt. Warum nicht zehn weitere Jahre von ihm träumen und nebenbei den Richtigen kennenlernen? Träumen war ja nicht verboten. Sie würde einfach diese Besprechung heute hinter sich bringen und ihn dann die nächsten zehn Jahre nicht wiedersehen. Danach, sollte sie ihn dann zufällig wiedersehen, war er bestimmt schon längst Papa von zwei bis drei Kindern und immer noch glücklich mit seiner Mira. Und sie war bestimmt auch verheiratet und gerade mit ihrem zweiten Kind schwanger. Glücklich mit dieser Vorstellung stand sie lächelnd auf.
„Ich freu mich schon darauf, zu sehen, wie du wohnst, Suzanna. An einer Uni war ich auch schon lange nicht mehr.“
Verständnislos blickte Suzie zu Pierre und wieder zurück zu Rob. „Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.“
„Pierre hat dir also noch nichts gesagt?“
„Wovon nichts gesagt?“
„Ich werde bei dir wohnen“, erklärte Rob, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. „Ich werde sozusagen dein Schatten.“
„Wie bitte?“, brachte sie leise hervor.
„Pierre und ich nehmen die Drohungen gegen dich sehr ernst. Wir sind übereingekommen, dass ich dich nicht aus den Augen lassen werde.“
„Wie lange?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Solange wie nötig.“
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Auf keinen Fall!“
Rob grinste. „Keine Sorge, Suzie. Ich versuche, so gut wie möglich im Hintergrund zu bleiben und dein Privatleben nicht allzu sehr durcheinander zu bringen.“
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