Peter Middendorp
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
I FRÜHJAHR I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
II SOMMER
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
III HERBST
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
IV WINTER
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
«AUCH UNTEN EMPFINDET MAN LUST UND LEID, MAGDA, ES IST GENAU WIE OBEN, ES IST GLEICH, OB MAN OBEN ODER UNTEN LEBT.»
HANS FALLADA, DER TRINKER
ICH STAND HINTEN AUF DEM FELD UND SAH ZU, WIE DAS LINKE BEIN MEINES VATERS VON EINEM MÄHDRESCHER AUFGEFRESSEN WURDE. Es war sein erster eigener Mähdrescher. Lange hatte er sich keinen zulegen wollen. Aber von der Mentalität von früher war ja kaum etwas geblieben. Fast nichts wurde mehr gemeinschaftlich angeschafft, immer weniger miteinander geteilt. Vater hatte sich für einen großen, modernen, flammend Roten entschieden. Auch, wie er sagte, mit Blick auf die Zukunft des Hofs.
Jetzt lag er da.
Und ich stand dabei und betrachtete ihn, ein Junge noch, zwölf, fast dreizehn.
Ein Bein lag frei, das andere hatte sich in der Maschine verfangen.
Es war, als ob die Messer im Inneren bei jeder Umdrehung eine neue Scheibe von seinem Bein abtrennten.
Er schrie, gellte langgezogen, irreal, schrill.
In dem Schreien lag Abscheu; anfänglich, so schien es, mehr des Schicksals als der Schmerzen wegen.
Er stieß sich ab mit dem Absatz, mähte mit den Armen und grub mit seinen starken Händen und Fingern im Sand – zurück wollte er, zurück mit aller Kraft, die in ihm steckte, aber es ging nicht, es gelang ihm nicht.
Er blutete wie ein Schwein – das Leben ergoss sich über das warme Stoppelfeld. Ich wusste, ich war zu jung für dieses Schauspiel, viel zu jung, ich hatte noch keine Verteidigung. Trotzdem konnte ich nichts als hinschauen. Hinschauen und weiter hinschauen, während ich meinen Vater hasste, weil er aus mir einen Zuschauer gemacht hatte.
Als Derksen auf den Mähdrescher stieg, schrie Vater nicht länger. Seine Kräfte waren dahin. Sein Kopf war nach hinten weggeknickt, der Mund ein wenig offen.
Derksen drehte den Schlüssel um – die Stille kam wie eine Detonation, sie donnerte auf einen herab, der Staub wirbelte, überall war Staub. Sofort danach sank er neben Vater auf die Knie. «Jan!», rief er. «Jan!» Mit der flachen Hand schlug er ihm einige Male ins Gesicht. «Jan! Jan!»
Einen Moment öffneten sich die Augen, schienen einen Moment nach einer Öffnung in der Wirklichkeit zu suchen, dann schlossen sie sich wieder.
«Keine Sorge, Jan», sagte Derksen. «Wir sind noch nicht zu spät.» Er nahm eine Hand meines Vaters und presste sie sich gegen die Brust. «Wir sind noch nicht zu spät.»
Sie sagen, meine Mutter hätte an diesem Tag ihre Schönheit eingebüßt. Das kann nur dann stimmen, wenn sie davor eine schöne Frau gewesen ist. Ich weiß es nicht, ich kann es weder abstreiten noch bestätigen, obwohl ich viel Zeit mit ihr verbracht habe in den ersten Jahren, den Kinderjahren, in der Küche und dem Wohnzimmer, aber mitunter auch auf der Treppe ins Obergeschoss, wenn sie sich im Badezimmer langsam in Ordnung brachte.
Als Kind sieht man so etwas nicht. Als ich unter ihren Röcken hervorkam und hochschaute, ist mir jedenfalls nichts Besonderes aufgefallen.
Mutter kam schreiend aufs Feld gerannt, die Arme in der Luft.
Alles war ein Ziel für ihre Panik.
Sie rannte zu Vater, stürzte sich in den Sand an seine Brust.
Sie rannte zu Derksen, zerrte ihn am Overall, als fordere sie von ihm, dass die Zeit zurückgedreht würde bis kurz vor dem kleinen, banalen Moment, als Vater nach einer ungeschickten Bewegung das Gleichgewicht verloren hatte.
Sie rannte zu der Maschine, rief, flehte, rannte wieder zu Derksen und zu Vater. So rannte sie weiter, eine ganze Zeit, überallhin, nur nicht zu mir.
Der Krankenwagen hielt auf der Straße, die Sanitäter kamen mit einer Tragbahre angerannt. Sie sahen alles. Alles nahmen sie wahr, darauf sind sie trainiert, nur mich sahen sie nicht.
Die Polizisten erbarmten sich meiner Mutter, nahmen sie mit in die Küche und versuchten sie zu beruhigen, während sie bereits einige erste Fragen stellten. Sie befragten Derksen bei sich zu Hause, zusammen mit seiner Frau, die selbst doch gar nichts gesehen hatte.
Mich fragten die Polizisten nichts.
Sie sahen mich nicht.
Von mir wollten sie nichts wissen.
Die Männer aus der Nachbarschaft, die seufzend auf der Auffahrt standen, besprachen miteinander, wer das Melken übernehmen sollte, wer wann was tun konnte. Zu mir sagten sie nichts, sie sahen mich nicht. Genau wie die Männer, die einige Tage später den Mähdrescher vom Acker schleppten, auf einen Tieflader packten und ihn vorsichtig davonfuhren.
Mit Vater und Mutter hatte der Krankenwagen auch den Tag mitgenommen. Das Licht verlor seine Farbe. Auf der Hauptstraße fuhr kein Verkehr mehr. Es war still, windstill, mäuschenstill. Ich konnte meinen Herzschlag hören, das Rauschen in meinen Ohren.
Die Dämmerung legte sich langsam über das Land. Das Haus war leer und dunkel. Alle waren im Krankenhaus, mein Vater und meine Mutter. Selbst die Nachbarn waren schon unterwegs dorthin. Ich stand noch auf dem Feld, die Zeit verging schnell.
Nachts lag der Mond hinter den Pappeln halb tot auf dem Rücken. Die Stare schliefen in den Bäumen, die älteren sicher, nah am Stamm, die Jungen und Kranken auf den äußeren Ästen und Zweigen – so legten die Starken einen tierischen Schild der Schwäche um sich, als erwürben Stare nur durch das Überleben des ersten Winters das Recht auf ein Weiterleben.
Der Morgen nahte mit Möwen, die sich still glänzend, das erste Licht unter den Bäuchen, geräuschlos über das Land führen ließen. Ich zog die Hände aus den Taschen und erschrak bei ihrem Anblick. Sie waren dick geworden, hart, Arbeitshände, Instrumente.
Ich sah die Schwalben tief über den Wassergraben streichen, der erste Kormoran des Tages hing seine Flügel zum Trocknen in die Bäume. Ich ging allein nach Hause zurück. Der Himmel zog sich zu.
Es dauerte Wochen, bis man mich wieder bemerkte. Bevor man manchmal, vereinzelt, ganz kurz zu mir hinschaute. Mutter, Nachbarn, Bauern. Lehrer, Ärzte, Krankenpflegerinnen. Tankwagenfahrer, Vertreter, der Importeur von Landmaschinen. Wenn sie schauten, dann nicht, um Informationen abzurufen. Sondern um welche zu senden, gerade lange genug, um mich wissen zu lassen, was ich eigentlich schon wusste.
Ich sah es an Passanten, Dorfbewohnern groß und klein. Ich sah es an meinem Vater, als der nach vielen, vielen Wochen endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war und mir im Vorbeifahren in seinem Rollstuhl kurz in die Augen schaute.
Ich habe es auch selbst im Spiegel gesehen.
Da sah ich, was ich schon verstanden hatte.
I
ICH BIN DER VERACHTETE, DER UNSYMPATHISCHE. Die Geringachtung hat mich irgendwann heimgesucht, noch auf dem stoppeligen Feld, mittlerweile an die dreißig Jahre her. Danach ist sie immer bei mir geblieben, hat mich weniger verfolgt als vielmehr ins Schlepptau genommen, durch die Schulen und die Jahre, bei allem, was ich tat und unternahm, bis hierher in diese Zelle, ein paar Quadratmeter Ruhe.
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