»Natürlich wissen Sie auch, wie lange der Tote eingefroren lag?« Horn musste die Gesichtszüge unter Kontrolle halten, sonst hätte er den Mund weit offen stehen.
»Leider nicht.« Schmitt grinste wölfisch, was ihm mit den beiden vorstehenden Zähnen vortrefflich gelang. »Das Dorf feiert. Eine organisierte Befragung wird schwierig. Wir sollten uns unter das Fest mischen.«
»Wir sind Fremde und werden nichts Brauchbares erfahren.« Horn schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Wenn der eingefroren war, haben wir bis nach der Kirmes Zeit.«
»So sei es«, meinte Schmitt, drehte sich um und schlenderte den Weg zurück.
*
»Im Dorf ist etwas los«, bemerkte Claudia beim Frühstück. Sie kaute auf einem Bissen Marmeladebrötchen.«
»Schützenfest«, meinte Kurt lakonisch.
»Nein, das meine ich nicht. Ich spüre es schon seit Wochen. Spannung liegt in der Luft.« Sie wischte mit dem Finger einen Marmeladenklecks vom Teller und leckte ihn ab.
»Das hängt wohl mit dem Spiel zusammen«, sagte er und wehrte Edgar ab, der versuchte, ein Stück Leberwurst zu erbetteln.
»Was für ein Spiel?« Claudia legte ihre Konzentration auf Kurt.
»Keine Ahnung. Einige Leute beteiligen sich an einem Spiel. Ich hab mich nicht darum gekümmert. Um die Weihnachtszeit hat das Dorf zusammengesessen. Da muss es wohl vereinbart worden sein.« Er beschäftigte sich noch immer mit Edgar, indem er ihn zankte. Er hielt ihm einen Brocken hin und zog ihn gleich wieder zurück.
»Weshalb weiß ich nichts davon?«
Claudias Tonfall ließ Kurt hochsehen.
»Du spielst nicht, ich spiele nicht … was soll daran interessant sein.« Die Augen sagten: Was soll das jetzt wieder?
»Ich bin halt neugierig. Die Leiche, die du gestern gefunden hast«, sie wechselte das Thema, »ist schon länger tot.«
»Was verstehst du unter länger? Der Typ stank noch nicht.«
»Der war auch tiefgefroren.« Sie grinste, als sie die Verblüffung in seinem Gesicht sah.
»Dann kann der schon hundert Jahre tot sein. Ein Ötzi.«
»Dann würde er mehr zersetzt sein. Die Kleidung lässt auf Ende der Jahrtausendwende schließen. Das hat nichts zu sagen. Es gibt viele, die solche Klamotten tragen.«
»Mehr als zehn Jahre …«, er nickte nachdenklich, »da habt ihr eine dicke Nuss zu knacken.«
»Ich nicht«, stellte sie klar. »Ich hab Urlaub.«
»Dafür bist aber gut informiert.«
Sie winkte ab.
*
Kapitel 6 (Rückblick Mai)
»Gott sei Dank habe ich mein iPad dabei.« Werner kramte in der Tasche und knallte das Gerät auf den Tisch. »Wer konnte ahnen, dass wir einen Internetanschluss benötigen.«
Als er vor wenigen Minuten den Umschlag öffnete, fand er ein Blatt Papier mit einer Link Adresse und einigen Passwörtern.
»Scheiße«, meinte Günter Franke. »Mit Computern hab ich es nicht, das wisst ihr.« Er zog eine angewiderte Grimasse.
»Meinst du ich?«, gab Siegfried seinen Senf dazu.
»Macht nichts. Schaut mir über die Schulter.« Er wies auf die beiden Stühle, die rechts und links neben ihm standen, und gab die Linkadresse ein. Eine Maske ging auf, mit dem Tafelberg in Kapstadt als Hintergrund. Vier, fünf Sekunden später blinkte der Schriftzug BASKET-MAKER-GAME über den Bildschirm. Die drei starrten gebannt auf den Monitor.
»Sonst nichts?«, fragte Boll enttäuscht.
»Noch nicht«, antwortete Werner. »Da kommt gleich etwas.« Er zeigte mit dem Finger auf den Eingabebalken für das Passwort. Böttcher gab die Ziffern- und Buchstabenfolge, die hinter seinem Namen stand, ein.
Der Hintergrund wechselte übergangslos zu einer Luftaufnahme des Heidegebiets. In dem blinkenden Feld erschien der Schriftzug: Herzlich willkommen Herr Werner Böttcher.
»Wieso weiß der meinen Namen? Ich wunderte mich schon, als ich die Passwörter hinter unseren Namen sah.« Er schüttelte verwundert den Kopf.
»Was machst du da überhaupt?«, fragte Siegfried, der mit großen Augen zusah, wie Werners Finger über die Tastatur flitzten.
»Ich öffne die Webseite, die unser Erblasser uns hinterlassen hat. Wie du hier siehst, muss ich jetzt abbrechen.« Er sah die beiden an. »Das wird kompliziert. Jeder von uns muss alleine sein, wenn er seine Seite öffnet. Das ist doch Scheiße«, fluchte er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Das verkomplizierte alles. »Falls der Spaßvogel ähnliche Klamotten für das Dorf vorgesehen hat, dann gute Nacht. Viele wissen noch nicht einmal, wie das Wort Computer geschrieben wird.« Er hämmerte fassungslos auf den Tisch. »Seht. Diese Datei sollen wir uns gemeinsam ansehen.« Er klickte sie, wesentlich ruhiger, an. »Mist. Ich wusste es. Der Idiot hat jedem einen Account geschaffen. Ich möchte wissen, woher er die Namen hat.« Ihm dämmerte, dass Beatus Basketmaker alles andere, als ein Wohltäter war. Klar konnte er sich täuschen. Aber der Typ hatte sich in der Vergangenheit nie gemeldet, nie vorgestellt.
»Was bedeutet das?«, fragte Franke vorsichtig. Werner reagierte manchmal cholerisch.
»Nicht mehr und nicht weniger, als das«, er fuhr mit dem Finger über den Monitor. »Sechzehn Personen, die auf eine, für sie eigens geschaffene, persönliche Webseite zugreifen können.«
»Und das bedeutet?« Siegfried zog vorsichtig die Nase hoch und fuhr mit dem Finger darunter durch, um zu fühlen, ob sie feucht war.
»Ich erkenne kein Muster.« Er rutschte abrupt den Stuhl zurück und musterte die beiden. »Ich weiß nicht, wie ich das dem Dorf erklären soll.« Er ging selbstverständlich davon aus, dass er der Überbringer der Botschaft wurde. »Am besten informieren wir die sechzehn genannten Personen persönlich. Das kostet zwar Zeit, verhindert aber auch Streit.«
»Ich verstehe nicht, was hier los ist«, stellte Günter in den Raum.
»Ich auch nicht. Aber im Grunde ist es einfach. Ab Anfang Juni bist du raus aus dem Geschäft.« Er klopfte mit dem Kuli auf eine Stelle des Bildschirms. »Aber nicht nur du, auch die Schützen. Mit Beginn des Spiels scheint unsere Aufgabe erledigt.« Er verschwieg, dass er in Person eine Rolle übernehmen sollte. Zumindest sah es beim Querlesen des Textes vorhin so aus. Er musste es noch einmal alleine durchgehen. Außerdem gehörte er nicht zu den Teilnehmern des Spiels. Seine Eltern zogen Mitte der fünfziger Jahre in das Dorf.
*
Schmitt dachte daran, wie er zu dem Einsatz in dieser Gegend kam. Er kannte den Termin seit Jahren. Falls er den Auftrag vernünftig erledigte, musste er sich bis zum Ende seiner Tage keine Sorgen machen. Und er hatte nichts anderes zu tun, als diesen Fall zu klären. Das Einzige war, er hatte keine Nebentätigkeitsgenehmigung. Bei diesem Gedanken lächelte er: Das war gut. Aber das konnte er, bei der in Aussicht stehenden Summe, getrost vergessen.
Ein Puzzlestück, von ihm geschickt platziert, was Zeitpunkt und Ort betraf, sorgte für Unruhe und rief ihn auf den Plan.
*
Jetzt im Nachhinein lief die Aktion unkomplizierter ab, als befürchtet. Werner versicherte sich, dass den genannten Personen ein PC und eine E-Mail-Adresse zur Verfügung standen. Er übersandte ihnen die Adressen und Passwörter. Er verfolgte, wie die Angaben nach und nach von dem Bildschirm verschwanden, was letztendlich bedeutete, dass sie das Spiel annahmen.
Am 15. Mai saß er, wie viele andere am PC. Punkt achtzehn Uhr lief eine Animation über den Bildschirm. Ein Kreis, der sich in acht Teilsegmente teilte, die einerseits mit roter und andererseits blauer Farbe gefüllt wurden. Der Kreis löste sich auf und verteilte die blauen Segmente nach rechts und die roten nach links. In den Teilstücken blinkten Symbole. Der Cursor lief auf eines zu und forderte zu einem Klick. Nach und nach verschwanden die Segmente, bis der Bildschirm leer wurde.
Böttcher verfolgte fassungslos, was geschah. Er war raus. Verdammte Scheiße. Basketmaker hatte ihn bis hier benutzt. Wütend trat er mit dem Fuß auf den Boden. Fast wäre es ihm entgangen. Der Bildschirm flimmerte. Rote und blaue Kugeln tanzten über den Monitor, in ihnen die Symbole, die in den Kreissegmenten enthalten waren. Inmitten tauchte ein gelber Ball auf, der zum Anklicken aufforderte. Werner bewegte die Maus und klickte die Kugel auf.
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