Dem Jenseits entkommen
Ein Roman von Herbert Weyand
herbert.weyand@t-online.de
173 Seite(n)
90231 Wörter
487828 Zeichen
Erstellt mit Papyrus Autor (http://www.papyrus.de)
Für Laura,
die maßgeblich für den Inhalt dieser Geschichte verantwortlich ist.
»Guten Abend und frohe Weihnachten. Mein Name ist Frauke Smeets.« Die Journalistin stand vor einer schlichten Kulisse. Ein Bild das, verschwommen und unscharf, den Hintergrund ausfüllte. Sie sprach deutsch, mit niederländischem Akzent und einer rauen tiefen Stimme, als ob der Kehlkopf verletzt wäre. Die, ungefähr fünfundvierzigjährige Moderatorin trug einen dunkelblauen Hosenanzug zu ihrer hageren Gestalt. Das dunkle, halblange Haar lag sorgfältig frisiert um das hagere Gesicht, aus dem die grauen Augen konzentriert und intelligent in die Kameras schauten. »Ich freue mich, dass sie am heutigen Heiligen Abend eingeschaltet haben. Bevor ich Ihnen meine beiden Gäste präsentiere, möchte ich, dass Sie das Gemälde im Hintergrund fünf Minuten auf sich wirken lassen.« Das Bild rückte in den Vordergrund und füllte in Millionen Haushalten den Bildschirm. Die Stimme der Moderatorin wurde technisch in den Hintergrund gerückt und mit einem leichten Hall versehen. Dazu spielte leise unbekannte Musik.
»Dieses Werk ist fast zweitausend Jahre alt und bietet handwerklich und technisch alles, was in den nachfolgenden Jahrhunderten von den großen Malern entwickelt wurde. Das Gemälde ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Was Sie auf Ihren Bildschirmen sehen, ist ein Foto. Der Künstler war ein germanischer Druide namens Kendric, der der Überlieferung nach, in der, und durch die, Schaffungsphase des Werks, erblindete und den Verstand verlor. Dann gab er sein Leben, um das Böse, das in seinem Epos schlummert, zu verschließen und für immer, zu verbannen.«
Ein heller Punkt blinkte, rechts oben, auf einem nebelartigen bösem Gesicht, das in einem tiefblauen Himmel lag. In diesen Nebel drehte eine Spirale, die unendlich weit hinunter bis zum Erdboden reichte. Eine Spirale, die aus Menschen bestand. Sie strebten auf einer grünen Wiese, aus allen Richtungen und vereinigten sich zu einem Strom, der unausweichlich in die Windungen, die nach oben, in den Himmel liefen, gezogen wurde. Das Gemälde entwickelte unglaubliche Intensität und zog die Menschen in seinen Bann. Die Fernsehzuschauer seufzten kollektiv auf, als das Foto vom Bildschirm verschwand und sie wieder in ihre eigenen Gedanken entließ.
»Der Treibstoff der Evolution ist der Zufall. Das glauben die Wissenschaftler heute und wollen nichts von höheren Wesen, höheren Mächten oder gar von Gott wissen. Woher nehmen Sie diese Zuversicht? Allein aus den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten? Heute Abend begrüße ich zwei Gäste, die Unglaubliches erlebt haben.
*
Kapitel 1 Professor Lauten
Die vier älteren Herrschaften drängten um den großen Bildschirm und beobachteten fasziniert die junge Frau, fast noch ein Mädchen, und den jungen Mann, die durch sumpfiges Gelände liefen. Sie wurden von drei Personen verfolgt. Das Bild auf dem Monitor ruckelte, als würde die Kamera unruhig geführt, und setzte sich aus Sequenzen mehrerer Aufnahmegeräte zusammen. Es war grobkörnig und die Figuren mehr zu erahnen, als zu erkennen. Einer der Beobachter war ständig damit beschäftigt, die Szene zu stabilisieren.
Schnell wurde klar, dies war kein Film, sondern eine Live-Übertragung oder Aufzeichnung realer Geschehnisse.
»Ich dachte, das Kind ist im Koma?«, stellte der kleinste der Runde fragend fest.
»Ist es auch.« Der Mittelgroße deutete auf einen Monitor, etwas abseits, auf dem eine flache Kurve lief. Oben rechts stand beständig eine Ziffernfolge: 68 und 84.
Nickend nahm der Erstere, den knappen Kommentar zur Kenntnis. »Wie lange ist sie in diesem Zustand?«
»Siebenhundertvierundsechzig Tage.« Sie waren keine Freunde von vielen Worten.
»Sie wird keine Erinnerung haben?« Wieder mehr eine Feststellung, als eine Frage. »Wir holen sie aus diesem Zustand.«
»Wann?«
»Jetzt.«
*
Claudia
»Frau Plum.« Staatsanwalt Dengler stand in der Tür zu ihrem Büro. Er trug, wie immer, einen braunen Anzug mit dezent darauf abgestimmtem Hemd und Krawatte.
Hauptkommissarin Claudia Plum hob langsam den Kopf vom Bildschirm und musterte ihn mit ihren grauen Augen, in deren Hintergrund es unmutig aufblitzte, abwartend. Wenn Dengler so in der Tür stehen blieb, suchte er wieder einen Dummen. Sie nickte ihm wortlos zu.
Der Staatsanwalt trat ein und ging zur Kaffeemaschine. Ein Rest dunkler Brühe schwamm in der Glaskanne, die er in eine Tasse goss. In diesem Büro, das drei Arbeitsplätze enthielt, konnte jeder ungefragt eine Tasse Kaffee haben, sofern er oder sie ab und zu eine Packung Kaffeepulver mitbrachte. Umständlich nahm er auf dem Stuhl, links neben dem Schreibtisch, von ihr aus gesehen rechts, Platz.
»Ich gebe Ihnen die Kurzfassung. Die Akten werden Ihnen gleich zugestellt. Sie können Sie auch auf dem PC abrufen. Das Aktenzeichen habe ich Ihnen vor wenigen Minuten auf Ihr Mailkonto geschickt.« Er begann ohne Floskeln, ganz, wie es seine Art war. »Vor ungefähr zwei Jahren, am 13. Oktober 2011, kamen drei Menschen ums Leben. Eine Explosion auf dem Markt, hier in Aachen. In der Nähe des Denkmals. Sie wissen … Kaiser Karl auf dem Pferd.
Vivian Seeger, Stefan Krüger, Lukas Leitner starben sofort. Marco Ruisten und Jana Winter fielen ins Koma. Der Junge, sechzehnjährig, wurde in seine Heimat, ich glaube, in die Nähe von Amsterdam, geschafft. Die sechzehnjährige Jana Winter ins Klinikum. Vor wenigen Tagen sollte sie in ein Pflegeheim verlegt werden, weil die Krankenkasse die Kosten nicht mehr tragen wollte. Sie wissen schon, Pflegefall. Jetzt ist das Mädchen vergangene Woche erwacht. Ich möchte, dass Sie mit ihr sprechen.«
Claudia atmete auf. Den Wunsch oder auch Auftrag würde sie gerne übernehmen. Ansonsten trieben sie die Aufträge des Staatsanwalts oder auch Polizeipräsidenten, wenn sie persönlich erteilt wurden, an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. »Muss ich auf etwas Besonderes achten?« Die Frage war mehr rhetorisch. Sie würde sich auf alle Fälle in die Akte hineinarbeiten, bevor sie ins Krankenhaus fuhr.
»Ich war damals genauso neu hier in Aachen, wie Sie und kenne den Fall faktisch nur aus der Presse und jetzt durch die Aktenlage. Das BKA und das LKA gingen zunächst von einem politisch motivierten Anschlag aus. Dafür gab es jedoch keine haltbaren Ansätze. Vielleicht kann das Mädchen sich erinnern.« Der Staatsanwalt war so um die Vierzig und ein verschlossener Mensch. Wie er gerade richtig erwähnte, begannen sie fast gleichzeitig nach einem größeren Polizeiskandal, in den der damalige Polizeipräsident und Staatsanwalt verwickelt waren, in Aachen. Wie immer ging es um Geld und Macht.
Die junge Hauptkommissarin nickte und wandte sich wieder dem Monitor zu. Dengler verübelte ihr die Ignoranz seiner Person nicht. Er kannte sie nicht anders. Im Präsidium war bekannt, dass sie nur bei ganz wenigen Menschen aus sich herausging. In dieser Beziehung standen sie sich in nichts nach. Er nickte kurz und stellte die Tasse auf dem Bord mit der Kaffeemaschine ab.
Claudia Plum war eins siebzig groß und trug heute ein dunkelgraues Kostüm. Der Rock endete zwei Fingerbreit über dem Knie. Das braune Haar fiel, leicht gelockt, bis auf die Schultern. Die Figur war sportlich mit normal großem Busen. Nicht zu klein und nicht zu groß. Aber das ist sowieso Geschmackssache. Sie war, Anfang dreißig … na ja … fast zweiunddreißig. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde sie nach Aachen versetzt und übernahm dort das Dezernat zwei für Tötungsdelikte. Trotz ihres jungen Alters konnte sie damals auf einen steilen Aufstieg beim LKA in Düsseldorf zurückblicken. In zwei spektakulären Mordfällen, die schon längere Zeit bei den Akten lagen, gelang ihr die Aufklärung. Für die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin war keine entsprechende Planstelle frei. Es sei denn, die Bewerbung in den Innendienst. Darauf hatte sie keine Lust und bewarb sich nach Aachen.
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