Jana schrieb mit einem Stift auf die Tafel. »Die Ärzte haben mich auch schon gefragt. Ich habe keine Erinnerung an den Vorfall. Heute weiß ich, dass es eine Explosion war.«
Claudia saß mittlerweile auf dem Bettrand und las mit. »Das ist sehr schade. Drei Tote sind nicht gerade wenig. Und nicht zu vergessen, du und dieser junge Mann …«
Janas Stift flitzte wieder über die Tafel, die Stirn angestrengt gekraust. »Kennen Sie die Namen der anderen Beteiligten?«
»Du kannst Claudia zu mir sagen. Ja. Die Namen haben wir: also du, Vivian Seeger, Stefan Krüger, Lukas Leitner und Marco Ruisten.« Die Hauptkommissarin hielt den Blick auf die Tafel gerichtet. Ihrer inneren Eingebung folgend sah sie hoch und in die schreckgeweiteten Augen des Mädchens. »Was ist los? Kennst du diese Personen?«
Jana schüttelte den Kopf. Dabei stand ihr das schlechte Gewissen auf die Stirn geschrieben.
»Ich glaube dir nicht.« Claudia hakte mit ungutem Gefühl nach.
»Ich kenne sie nicht«, schrieb Jana und sah Claudia offen in die Augen. In ihrem Gesicht lag kein Falsch. Wenn da nicht das Ziehen in den Gedärmen der Kriminalistin wäre. »Kannst du mir Näheres zu den anderen sagen?« Janas Stift tanzte über die Tafel.
»Bis auf dich und den Jungen haben wir, so brutal das jetzt ist, nur Fleischreste gefunden. Dir ist äußerlich wenig geschehen. Dieser Marco hatte ein gebrochenes Bein und eine Kopfverletzung. Vom Alter her hättet ihr zusammengehören können.« Claudia beobachtete jetzt aufmerksam Janas Gesicht.
Die Genesene auf dem Bett schüttelte nachdenklich den Kopf. Ihre Gedanken schienen weit weg, als lausche sie in sich. Schließlich sah sie Claudia mit einem schmerzhaften Ausdruck an und senkte die Augen auf die Tafel.
»Können wir das Gespräch später fortsetzen? Heute nicht. Ich muss nachdenken.«
»Sofern es der Aufklärung dient … gerne.« Sie nickte und spürte das bekannte Kribbeln, wenn sie wieder in eine Katastrophe stolperte. Sie hatte weder Lust noch Zeit, einen zweiten Fall parallel zu bearbeiten. Außerdem lag die Geschichte hier zwei Jahre zurück. Staatsanwalt Dengler würde ihr den Fall so oder so aufdrücken. Hier waren die Toten … und Mordkommission war eben Mordkommission. Sie musste abwarten, was ihre Kollegen dazu sagten. Sie würden bestimmt nicht begeistert reagieren. Die Drogenopfer mussten warten oder das Team sich teilen. Und alles vor Weihnachten.
»Glaube mir bitte. Ich kannte Marco nicht. Es ist viel komplizierter. Du wirst mich für verrückt halten.« Jana wusste nicht, was sie trieb. Doch sie vertraute der Polizistin und spürte eine Seelenverwandtschaft.
»Ich respektiere deinen Wunsch.« Claudia spürte den Zwiespalt und wie sie auch selbst hineingeriet. Zu dem bekannten Ziehen im Unterbauch gesellte sich das ebenso bekannte Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Sie war wieder einmal in die Falle gegangen. Der Fall war viel komplizierter, als zurzeit alle dachten. »Du wohnst in Grotenrath. Ich auch.«
»Ich weiß«, schrieb Jana. »In der Waldstraße. Ich lebe Hinter den Höfen.«
»Zufälle gibt es«, stellte Claudia fest.
»Das ist kein Zufall.«
*
Nun saß Jana hinten im Auto und Papa fuhr nach Hause. Es gefiel ihr aus dem Fenster zu schauen und zu sehen, wie die Landschaft vorbeiflitzte. Alles sah anders aus, als in ihrer Erinnerung. Aber nein … die Veränderung lag in ihr. Am Sonntag war der erste Advent und es bestand Hoffnung auf Schnee. Das wusste sie aus den Nachrichten des Fernsehers, der in ihrem Krankenhauszimmer stand.
Sie dachte an das Gespräch mit der Polizistin. Hatte sie vielleicht etwas voreilig gehandelt? Nein. Das wollte sie sich nicht vorstellen. Irgendwann musste sie ihre Geschichte erzählen und dann würde sie für verrückt erklärt. Claudia Plum konnte die Person werden, der sie vertraute. Doch zunächst musste sie einige Dinge erledigen. So lange würde sie jedem aus dem Weg gehen, der versuchte, ihre Zeit während des Komas zu hinterfragen.
Jana konnte kaum glauben, dass sie zwei Weihnachtsfeste verpasst hatte. Aber hatte sie das? Ein Lächeln lag um ihre Lippen, als sie sich erinnerte.
*
Jana schlug die Augen auf und sah … nichts. Absolute Schwärze, absolute Stille. Ihr Magen krampfte und sie fuhr unwillkürlich mit den Händen dorthin. Keine Berührung … sie spürte keine Berührung. Sie würgte. Die Angst fraß in ihre Knochen. Knochen? Der Würgereiz war gedanklich, nicht körperlich. Sie bewegte die Beine zu Testzwecken. Das funktionierte … fiktiv … nicht physisch. Weitere Versuche ergaben: Sie dachte. Aber wo? Zumindest nicht in ihrem Körper. Wenn diese verdammte Dunkelheit nicht wäre …
Janas Gedanken waren zeitlos. Sie glitten in die Vergangenheit und suchten Halt. Sie kehrten zurück in die Gegenwart, in den körperlosen Zustand. Sie pochten an die Zukunft, die keine war. Sie spürte weder Wärme noch Kälte … hatte keinen Geschmack … hatte keine Sinne. Lediglich Gedanken, Gedanken …
Jana flüchtete und wandte einen Trick an, den sie immer dann benutzte, wenn ihr Herz schwer war. Sie tauchte in eine Geschichte, die sie selbst erfand oder die schon einmal erzählt war. Das wirkte immer.
»Was willst du denn hier?«, fragte die näselnde quenglige Stimme.
»Wo bin ich?«, wollte Jana wissen.
»Bist du blöd?« Dieselbe Stimme von vorhin stellte die Frage.
»Ich heiße Jana und wer bist du?«
»Lukas.«
»Weißt du, wo wir hier sind? Ich sehe nichts.«
»Ich wusste es. Du bist blöd.« Lukas Stimme klang genervt. »Die ersten paar Stunden sieht niemand etwas. Hat dir das niemand gesagt.«
»Nein. Wer sollte mir etwas gesagt haben? Ich weiß ja nicht einmal, wo ich bin.«
»Kümmere dich nicht um Lukas«, sagte eine freundliche Frauenstimme. »Er ist heute nicht gut drauf.«
»Ihr macht mir Angst.« Jana war versucht, zu weinen.
»Du musst dich nicht fürchten.« Jana fühlte etwas wie ein Streicheln. Leicht wie ein Hauch. Die Empfindung beruhigte sie. Endlich wieder ein Gefühl. »Wir haben das alle durchgemacht.« Die Frau mit der besänftigenden Stimme fuhr fort. »Habe Geduld.«
»Ich will nach Hause.« Jana weinte jetzt doch.
»Das ist nicht so einfach. Wir warten alle darauf, wieder nach Hause zu kommen. Ich bin übrigens Marco.« Die Stimme des Jungen klang so, als wolle er ihr helfen. Fingerspitzen fuhren durch die Tropfen der Tränen, die über ihre Wangen liefen. »Du weinst. Niemand weint hier.« Jana hörte das Erstaunen in seiner Stimme.
»Marco. Wo bin ich?« Sie bekam ihre Gedanken nicht in den Griff. Weshalb weinte hier niemand? Das Grauen kam wieder. Mit Macht zwang sie sich in die Geschichte.
»So genau kann ich das nicht sagen, Jana. Ich bin erst kurze Zeit hier.«
»Jetzt ist aber Schluss. Hört auf mit den Spielchen.« Die brummige Stimme eines Mannes mischte sich ein. »Wir sind an einem Ort, den es nicht gibt. Hier müssen wir uns entscheiden, ob wir leben wollen oder nicht.«
»Nein, nein. Ich will nichts mehr hören. Wo sind meine Mama und mein Papa.« Ihr Verstand knipste weg.
*
In Janas Erinnerung drang das Geräusch des fahrenden Autos. Sie sah von hinten, im Rückspiegel, das glückliche Gesicht ihres Vaters. Er hatte sie besorgt auf dem Rücksitz in Decken gepackt, als ob die Heizung des Fahrzeugs nicht ausreichte.
»Geht es dir gut, Kleines?«, fragte er mit besorgtem Ausdruck im Hintergrund seiner grünen Augen, wobei sein Gesicht einen freudigen Ausdruck trug.
Jana nickte lächelnd. Sie hatte beschlossen, nicht zu sprechen. Na ja … ganz so war es auch nicht. Sie hatte es geschworen.
Jana war einssiebzig groß und trug ihr blondes Haar halblang bis zur Schulter. An den Schläfen war sie rasiert, wegen der Elektroden, die die Gehirnströme gemessen hatten. Doch in den letzten Tagen hatte sie gelernt, ihre Haare so zu frisieren, dass die Stellen verdeckt wurden. Sie war schon immer ein schlankes Kind. Doch jetzt, nach der langen Krankheit, war sie hager und zu einer jungen Frau geworden. Die ehemals kindlichen Züge von vor zwei Jahren suchte sie vergebens. Der erste Blick in den Spiegel zeigte nicht sie, wie sie sich in Erinnerung hatte. Die Jochbögen in ihrem Gesicht traten hervor und die blauen Augen lagen in tiefen Höhlen. Trotz der schneeweißen Gesichtsfarbe sah sie keineswegs krank aus, sondern sprühte vor unbändiger Lebenskraft. Die junge Frau, die ihr entgegensah, hatte noch einiges vor im Leben.
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