Gleich bei ihrem ersten größeren Fall, im platten Hinterland Aachens, traf sie auf Kurt Hüffner, der, so wie es aussah, die Liebe ihres Lebens wurde.
Claudias Gesicht trug einen ständig distanzierten Ausdruck und schreckte viele, die sich ihr nähern wollten, ab. Sie besaß Ausstrahlung und beherrschte die Szene sofort, wenn sie sie betrat. Dabei war sie immer um Perfektion bemüht und verdeckte ihre, dadurch entstehenden, Unsicherheiten perfekt. Als größtes Manko sah die Hauptkommissarin ihre emphatische Veranlagung. Ihre Sensoren filterten die feinsten Schwingungen ihres Umfeldes heraus. Die Kollegen des Teams, mit denen sie zusammenarbeitete, verdrehten die Augen, wenn das Bauchgefühl bei ihr wieder zuschlug. Dabei stimmte der vorauseilende Ruf, sie löse ihre Fälle aus dem Bauch heraus nur teilweise. Letztendlich war es der analytische Verstand, der Fakten und Gefühle zu erfolgreichen Ergebnissen fügte.
Seit nunmehr einem Jahr lebte sie mit Kurt zusammen in dem kleinen Heidedorf Grotenrath. Dort wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten … dort wo die Gehwege jeden Abend hochgeklappt wurden, damit niemand stolperte. Nicht, dass jemand einen Bürgersteig benötigte. Grundsätzlich liefen die Dörfler mitten auf der Straße, sei es mit Kinderwagen oder Schubkarre. Für sie war es ein großer Schritt aus der Großstadt heraus in dieses verlassene Kaff. Doch mittlerweile liebte sie die Ruhe und das Bewusstsein, dass hier die Uhren anders tickten. Zeit war relativ, besonders hier. Immer wieder blieb eine Minute oder mehr für eine kurze Unterhaltung, die den alltäglichen Tratsch zum Inhalt hatte.
Kurt restaurierte sein altes Bauernhaus, dessen Rückseite zum Heidegebiet hinaus ging. Bis zum Saum des Waldes waren es keine dreihundert Meter. Zurzeit baute er einen Gebäudetrakt zum Pferdestall um. Drei Baustellen auf seinem Grundstück entsprachen der Norm. Es konnten jedoch auch manchmal vier oder fünf sein. Sein Job ließ ihm im Grunde zu wenig Zeit für die Restaurierungsarbeiten. In dieser Hinsicht war er eigensinnig, nach dem Motto: Selbst ist der Mann. Doch seit dem er Claudia kannte, ließ er es langsamer angehen. Na ja … ganz so freiwillig kam das Kürzertreten nicht. Kurt war unglaublich neugierig und steckte immer wieder seine Nase in Claudias Fälle. Diese Vorwitzigkeit kostete ihn fast das Leben. Ein Gutes erwuchs aus dieser Angelegenheit: Ihm wurde klar, dass es mehr als nur Arbeit im Leben gab. Von Haus aus hatte er einiges in petto, sodass er seine feste Beschäftigung bei der RWTH kündigte und als Freiberufler anging. Das wiederum gab ihm die Zeit, in Claudias Arbeit hineinzuwirken. Claudia allerdings sah das nicht so gerne. Zudem war Kurt ein Leichenspürhund. Wenn es im Umkreis von zwanzig Kilometern eine Leiche gab, konnte sie sicher sein, dass er darüber stolperte.
Die Entscheidung, in diesem kleinen Heidedorf zu leben, kam einer Rückkehr gleich. Denn Grotenrath war Claudias Geburtsdorf. Das erfuhr sie jedoch erst, nachdem sie mit Kurt schon einige Zeit zusammenlebte. Eine Kindheit erlebte sie hier nicht, denn ihre Eltern zogen nach Düsseldorf, bevor sie bewusste Erinnerungen aufbauen konnte. Erst spät erfuhr sie, dass der Tod ihres Bruders der Grund für den Umzug war. Er wurde bei seiner Erstkommunionfeier ermordet. Die Erinnerung daran, die sie verdrängt hatte, kam während einer spektakulären Entführung auf dem Aachener Katschhof wieder. Es gelang ihr nach Jahrzehnten, den Mörder dingfest zu machen. Seitdem war sie befreit, weil die unbekannte Last, die sie ihr Leben lang verfolgte, einen Grund hatte.
Wie das Leben so spielt, führte es Claudia also an die Wurzeln ihrer Familie zurück. Das alte Bauernhaus, das sie mit Kurt bewohnte, war das ehemalige Haus ihrer Großeltern. Mittlerweile kannte sie das Dorf gut genug, um nicht an einen Zufall zu glauben. Ihre empathischen Empfindungen, die sie einerseits in ihrem Beruf nutzte, wirkten andererseits störend im täglichen Leben. Dort wurde sie zur misstrauischen Ziege, wenn ihr ein Gesprächspartner nicht auf Anhieb sympathisch war. Im Verlaufe ihres Lebens machte sie sich oft Gedanken darüber, ob diese Begabung ein Fluch oder ein Segen war. Sie verbarg sie geschickt vor ihrer Umwelt. Nur wenige Menschen wussten darum. Selbst in ihrem Team, das aus Oberkommissarin Maria Römer und Hauptkommissar Heinz Bauer bestand, öffnete sie sich nicht. Ihre Kollegen sprachen von Intuition und Bauchgefühl, auch, wenn sie ahnten, dass mehr dahinter steckte.
Jetzt, in diesem Dorf, stellte sie fest, dass insbesondere die älteren Einwohner des Dorfes diese Begabung auch besaßen. Also lag der Ursprung wahrscheinlich hier. Irgendwelche Gene, die auch sie hatte.
Nun ja. Jetzt hatte sie Denglers Auftrag am Hals, aber das war sicherlich schnell erledigt. Der Fall, den sie zurzeit bearbeiteten, trat sowieso auf der Stelle. Ein wenig Abwechslung tat da gut.
Claudia dachte mit Schaudern an die seelenlosen Opfer, zu deren Fall sie zurzeit die Ermittlungen leitete. Vor ungefähr zwei Monaten wurden, an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet, junge Leute aufgegriffen, die sich an nichts mehr erinnerten. Nicht nur das: Das Gehirn war faktisch leer … gelöscht. Über irgendeine Grenze im Dreiländereck Belgien, Niederlande, Deutschland schwappte wahrscheinlich eine Droge herüber, an deren Zusammensetzung sie noch rätselten. Auch sonst gab es keinen Anhaltspunkt. Die einschlägig bekannten Dealer schienen ebenso überfordert, wie die Polizei. In diesem Fall arbeiteten sie und ihre Kollegen mit den niederländischen und belgischen Behörden zusammen. Die bekannten Wege über Rotterdam oder Seebrügge brachten bisher keine Ergebnisse. Razzien und Ermittlungen in Diskotheken, die häufig als Umschlagplätze dienten, verliefen erfolglos.
Erst Anfang der Woche besuchte Claudia das Pflegeheim in Melaten, in dem die Staatsanwaltschaft die fünfzehn jungen Menschen untergebracht hatte, deren Gehirne durch die Drogen zerstört wurden. Willenlose Geschöpfe, die zu keiner selbstständigen Tätigkeit fähig waren. Starre, ausdruckslose Gesichter und Augen zerrten an den Nerven der Hauptkommissarin. Schaudernd dachte sie an den Anblick und zog fröstelnd die Schultern nach vorne. Welche Schweine taten Menschen so etwas an?
*
Der Sanitäter oder Notarzt lächelte auf sie herunter. Er gab sich große Mühe, nicht zu weinen, und es war seltsam, dann doch die Tränen laufen zu sehen. Sie wurde auf eine Trage gehoben und in einen Notarztwagen geschoben, auf dessen Dach das blaue Licht blinkte. Parallel sah sie eine weitere Trage, die in das Nachbarauto geschoben wurde. Ihr Blick erhaschte das blasse leblose Gesicht eines Jungen. Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.
Der nächste Blick ging in das Gesicht eines älteren Mannes, der sichtlich erschrak, als Jana die Augen aufschlug. Er drückte auf den Kolben der Spritze, die im Zugang auf ihrem Handgelenk steckte. Sie versank wieder in Dunkelheit.
Jana Winter schlug die Augen ein weiteres Mal auf und sah nichts. Die Gedanken flossen so träge, dass eventuelle Angst- oder Panikgefühle das Denkzentrum nicht erreichten. Sie glitt wieder weg.
Jana Winter schlug die Augen auf. In ihrem Sehfeld erschien die kalte Neonleuchte an der Decke, in deren Abdeckung einige tote Fliegen lagen. Sie registriert nicht, dass seit ihrem ersten Erwachen, neunundsechzig Tage vergangen waren. Eine murmelnde Stimme drang an ihr Ohr. Aus dem Tonfall entnahm sie, dass sie erzählte. Gerade wollte sich eine Erkenntnis festsetzen, als sie wieder entglitt.
Jana Winter schlug die Augen auf und sah das bekannte Neonlicht. Etwas war anders. Die toten Fliegen in der Abdeckung fehlten. Was war geschehen? Wo war sie?
Eine bekannte Stimme schimpfte: »Sie müssen mir doch sagen können, woher die blauen Flecken kommen. Die erscheinen nicht aus dem Nichts.«
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