Geraldine Haas
Ein verhängnisvolles Vermächtnis
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Inhaltsverzeichnis
Titel Geraldine Haas Ein verhängnisvolles Vermächtnis Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Es war am frühen Morgen eines frostigen Dezembertages. Sofia hatte sich von Tante Bertha verabschiedet, um mit dem Zug zurück in ihr kleines Bergdorf zu fahren, das hoch über dem schweizerischen Rheintal lag. Die Tante hatte ihr ihre Tagebuchaufzeichnungen und einige Briefe anvertraut. „Damit sie nicht in falsche Hände geraten“, hatte sie gesagt. Bertha glaubte, dass sie bald sterben werde. Sofia, ihre einzige Nichte, war ihr besonders ans Herz gewachsen.
Sie legte das Tagebuch in ihren Koffer. Doch als der Zug die kleine Stadt im Odenwald verlassen hatte und Sofia aus dem Fenster, den davoneilenden Landschaftsbildern nachblickte, überkam sie Neugier und sie holte den Koffer aus dem Fach über dem Sitz, schob ihre Hand durch eine schmale Öffnung hinein und fühlte nach dem Tagebuch, bis sie schließlich den abgegriffenen, braunen Ledereinband zu fassen bekam. Sie fragte sich, warum die Tante ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben hatte. Ob es Probleme in ihrer Ehe gab, und sie sich ihren Kummer darüber vom Herzen schrieb? Wenn Sofia ehrlich war, stimmte es auch in ihrer Ehe nicht mehr, schon lange nicht mehr. Während sie darin blätterte, traf sie auf eine interessante Stelle:
Seit heute weiß ich, dass August eine Freundin hat, denn ich ertappte ihn bei einem Telefongespräch mit einer Frau. Die Situation war eindeutig. Es traf mich so tief, dass ich unfähig bin, meiner Arbeit nachzugehen. Zuerst war es der Schock, ich saß regungslos da und hatte nicht die Kraft auch nur irgendetwas zu tun, aufzustehen, zu weinen, schreien. Nach einigen Minuten kamen die Tränen mit der Frage: Was habe ich falsch gemacht? Warum tut er das? Nach weiteren langen Minuten kam der Zorn und mit ihm der Hass. In diesem Moment wäre ich fähig gewesen ihn zu töten. Dann überlegte ich, ob ich mit ihm darüber reden sollte oder besser schwieg. Ich entschied mich für das Schweigen, denn er hätte wahrscheinlich alles abgestritten: Es war nur eine Klientin, nichts von Bedeutung. Was du wieder gleich denkst! Oder er hätte mich beschimpft, weil ich gelauscht hatte.
Sofia legte das Buch auf ihren Schoß und schaute aus dem Fenster. Erging es ihr nicht ähnlich? Obwohl sie keine Beweise dafür hatte, dass Marcel sie betrog, war da doch dieses Ungewisse. Warum kam er meist spät in der Nacht aus dem Büro nach Hause? Oder fuhr gleich nach dem Abendessen noch einmal in die Stadt? Er habe noch zu arbeiten, sagte er. Aber Sofia glaubte ihm nicht. Sie hatte bereits daran gedacht einen Detektiv einzuschalten. Doch auf der anderen Seite war sie sich nicht sicher, ob sie die Wahrheit ertragen konnte, wenn er sie tatsächlich mit einer Anderen betrügt.
Wieder blickte sie auf das Tagebuch und las weiter:
Habe beim reinigen von Augusts Anzugsjacke, in der Brusttasche zwei alte Theaterkarten gefunden. Es ist offensichtlich, dass er mit dieser Person dort gewesen war. Ich fragte ihn, was es mit den Karten auf sich hat. Er sagte; er habe sie gefunden. Auf meine Frage; warum er sie in die Tasche steckte, erwiderte er barsch: „Du misstraust mir? Du solltest dich schämen.“ Darauf schwieg ich und fraß meinen Kummer in mich hinein. Die Angst, er könnte mit einer Anderen ein Kind haben, das ich ihm nicht gebären konnte, macht mich fast verrückt. Viele Nächte schlafe ich seither unruhig oder liege über Stunden wach in meinem Bett und grüble. Als ich dann gestern mit dunklen Schatten unter den Augen am Frühstückstisch saß und August mich erst kopfschüttelnd anblickte und dann fragte: „Warum gehst du nicht endlich zu einem Arzt?“, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich sprach ihn wieder auf die Theaterkarten an und sagte, er wäre an meinem Zustand schuld. Mit den Worten: „Du bist ja krankhaft eifersüchtig“, wies er die Anschuldigung von sich. Dann stand er auf und ging. Hätte er nur mit mir darüber geredet, hätte er doch gesagt: „Kein Grund zur Aufregung, es soll auch nicht wieder vorkommen“ und hätte er mich dabei in den Arm genommen. Ich hätte ihm verziehen. Aber er reagierte gereizt und überließ mich meinem Schicksal, deshalb vertraue ich meinen Schmerz diesen leeren Blättern an. Sie nehmen meinen Kummer schweigend auf und das tut gut. Ohne sie wäre ich hilflos und alleine.
Sofia hatte das Tagebuch wieder auf ihren Schoß gelegt und blickte abermals aus dem Fenster. Mein Gott Tante Bertha, dachte sie, was hatte sie wohl alles durchgemacht. Und in gewisser Weise gleicht es auch meinem Leben. Zwar gibt es keine Theaterkarten, eigentlich gibt es nichts Beweisbares und doch ist dieses Ungereimte um Marcel da. Ein Mann der sich immer nur mit zu viel Arbeit entschuldigt, hat etwas zu verbergen. Warum nur habe ich nie mit ihm darüber geredet oder mit Tante Bertha, bei meinem Besuch? Aber es hätte sie wahrscheinlich aufgeregt und alte Wunden aufgerissen. War schon gut, dass ich nichts gesagt habe.
Beim nächsten Aufenthalt stiegen Fahrgäste zu. Sofia gegenüber nahm ein beleibter Herr Platz, musterte sie kurz, holte eine Zeitung aus seinem Aktenkoffer und vertiefte sich darin. Sie fragte sich unwillkürlich, ob er auch so einer ist und seine Frau hintergeht? Dabei blickte sie auf die Perlmuttknöpfe seiner hellgrauen Weste, die sich über seinem Bauch wölbte. Plötzlich schaute er auf, ihre Blicke trafen sich und sie glaubte hinter diesen etwas aufreizendes, eine gewisse Lust zu erkennen. Wie begierig er sie mit seinen Augen abtastete. Sofia sah aus dem Fenster und doch konnte sie seinen Blicken nicht entrinnen. Es war, als bewegten sich unsichtbare Hände über ihren Körper. Sollte sie ihm seine Unverschämtheit ins Gesicht schleudern? Sie schaute zu ihm hin. Doch er hatte sich wieder in seine Zeitung vertieft.
Wahrscheinlich ist er ein Handlungsreisender, dessen Frau mit den halbwüchsigen Kindern zu Hause auf ihn wartete, während er die geschäftlichen Reisen zum Anlass nahm, unbedarften Frauen nachzustellen.
Wieder blickte sie auf das Tagebuch auf ihrem Schoß und sie glaubte die Tante in ihrem Stübchen genau vor sich zu sehen, wie sie an dem alten Sekretär saß und schrieb. Es roch wie immer nach Lavendel, den sie im eigenen Garten pflückte und in kleinen Leinensäckchen aufbewahrte. Nachdenklich strich sie über die engbeschriebenen Zeilen, deren sauber aneinandergereihte Buchstaben zeigten von Berthas Ordnungsliebe, alles immer am rechten Fleck zu wissen.
Ein Kuvert fiel aus dem Tagebuch auf den Boden des Zugabteils. Sofia hob es auf und sah darauf ihre Anschrift. Neugierig entnahm sie dem vergilbten Umschlag einen vor vielen Jahren geschriebenen Brief und fragte sich, warum ihn die Tante nicht absandte. Aufgeregt begann sie zu lesen, Unwesentliches und Alltägliches, aber einige Zeilen erregten ihre Aufmerksamkeit:
Weißt du noch meine liebe Sofia, wie Du eines Abends die schwarze Katze mitbrachtest. Als ich das Licht anknipste, sahst Du in ihre grünen Augen und ließest sie mit einem Aufschrei auf den Boden fallen. Weißt Du noch? Doch dann hab’ ich sie Dir wieder in den Arm gelegt und Ihr beide wurdet von diesem Moment an Freunde. Molli hast Du sie genannt und in Deinem Puppenwagen einquartiert.
Sofia schaute wieder aus dem Fenster. Sie glaubte sich genau an den nasskalten Novembertag zu erinnern, als sie von ihrer Freundin heimkehrte. Es war an diesem trüben Tag schon besonders früh dunkel geworden. Das Kätzchen saß auf den Stufen des Bahngebäudes, in dem sie damals wohnten, weil ihr Vater dort Bahnhofsvorsteher gewesen war. Sie hatte das Tier in den ersten Stock getragen, dabei nicht das Licht angemacht, weil sie fürchtete, jemand hätte sie sehen und ihr das Kätzchen wegnehmen können. Tante Bertha wollte die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage bei ihnen verbringen und war deshalb auf Besuch da. Sie knipste das Licht an und Sofia erschrak, als sie in die grünen Katzenaugen blickte. Sie sah wieder auf die Zeilen. Genau so war es damals, sie ließ das Tier mit einem Aufschrei des Erschreckens fallen. Doch die Tante nahm das verängstigte Kätzchen auf und legte es Sofia wieder in den Arm.
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