Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ Marcel den Raum und schlug die Türe so fest hinter sich zu, dass der Schlüssel zu Boden fiel. Sofia hob ihn auf und steckte ihn zurück ins Schloss. Sie lauschte. Da hörte sie ihren Mann sagen: „Entschuldigen Sie Marie! Aber meiner Frau geht es heute wieder einmal nicht gut. Wissen Sie, auch das ist ein Grund...“
„Ihr geht es bestens!“, rief Sofia von oben herab. „Ihr ging es noch nie so gut wie heute!“
Als nach kurzer Zeit die Haustüre geschlossen wurde, hastete Sofia in die Küche hinunter und ans Fenster, von dem aus sie auf die Einfahrt sehen konnte. Marcel stand dicht vor Marie. Sie unterhielten sich. Er musste ihr angeboten haben, sie mit in die Stadt zu nehmen, denn er begleitete sie um den Wagen herum zum Beifahrersitz. Mit einer galanten Geste öffnete er ihr die Türe. Dabei nahm er ihren Arm, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. Und Marie nahm, wahrscheinlich dankbar, diese Hilfe an und setzte sich in den Wagen. Sofia wandte sich vom Fenster ab und sie fühlte dabei, wie sich die Einsamkeit in dem Haus ausbreitete. Aber sie brauchte doch dieses Alleine sein und dennoch machte es ihr Angst. Sie sah Marcel noch immer vor sich, und wie er diesem jungen Ding beim Einsteigen half. Was dachte er sich eigentlich dabei, fragte sich Sofia. Er musste doch wissen, dass sie ihn beobachtete.
Der aufdringliche Geruch von Maries Parfum lag noch in der Luft, als Sofia wieder in ihr Zimmer hinauf ging. Diesmal jedoch fehlte ihr die Konzentration um in dem Tagebuch zu lesen. Immer wieder musste sie an Marie denken. Sie lehnte sich zurück und schloss ihre Augen. Das Ticken der Uhr war das einzige Geräusch. Keine Menschenseele weit und breit, der sie hätte ihr Herz ausschütten können.
Vielleicht hatte es ja auch etwas Gutes, wenn Marie ins Haus kam, sagte sich Sofia plötzlich. Ob sie es jedoch ertragen konnte? Marcels schmachtender Blick, wenn er mit Marie redete.
Sofia hatte sich Tee gebrüht. Das würde also in Zukunft auch diese Person übernehmen. Überhaupt, alles würde anders werden mit ihr. Mit einem Seufzer ließ Sofia sich auf den Küchenhocker nieder. Tatenlos würde sie zusehen müssen, wie man sie immer mehr beschnitt und obendrein noch hinterging. Und das in ihrem eigenen Hause. Doch nicht in ihrem Zimmer. Da hatte sie sofort durchgegriffen. Nicht mit mir, hatte sie sich dabei gedacht. Ja, wenn Marcel sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab es kein Zurück. Dieser Scheinheilige! Er hatte Sofia nach ihrer Meinung gefragt. Er wird diese Person auch ohne meine Zustimmung einstellen, sagte sie sich.
Der Tag war trüb gewesen. Eigentlich hatte es nicht so richtig hell werden wollen. Dichte Nebelschwaden zogen durch das Tal und hatten gegen Mittag kurz etwas aufgelockert. Nun verdichteten sie sich wieder. Nur wenige Meter konnte man aus dem Fenster hinaussehen. Hier und da wirbelten einige Schneeflocken durch die Luft.
Die Pendule in der Stube schlug acht Uhr. Marcel war noch nicht wieder gekommen. Vielleicht hatte er ja noch im Büro zu tun? „Ach was! Wahrscheinlich macht er sich mit Marie einen vergnüglichen Abend“, sagte Sofia mit lauter Stimme. Vielleicht essen die beiden in einem Restaurant, während ich das Abendessen für ihn zubereite.
Doch da hörte sie seinen Wagen vorfahren, und kurz darauf fiel auch schon die Haustüre ins Schloss.
„Ich habe mich verspätet, Liebling!“, rief er.
Das ist nicht das erste Mal, dachte Sofia, während sie mit dem Essen aus der Küche kam.
„Du isst nichts?“, fragte er verwundert, als er nur ein Gedeck auf dem Tisch sah.
„Nein!“, erwiderte sie knapp.
„Was hast du? Geht es dir nicht gut?“ Nachdenklich schaute er sie an.
Sofia setzte sich ihrem Mann schweigend gegenüber und sie dachte, er glaubt wohl, ich bin so naiv und bemerke nicht, was gespielt wird. Wie er gemeinsam mit dieser Marie zu Abend gegessen hat.
„Jetzt, sag‘ schon“, er legte das Besteck weg. „Ist es wegen Marie?“
Sie wandte ihren Blick von ihm ab.
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“, fragte er. Und er beantwortete seine Frage auch gleich selbst: „Das ist doch lächerlich.“
Lächerlich? dachte sie, und sie musste plötzlich lachen.
„So sag doch was!“
„Kennst du sie schon lange?“, brach es endlich aus ihr heraus.
„Also doch!“, erwiderte er. In einem Anflug von Zorn schnitt er das Steak auf seinem Teller in kleine Stücke und schob hastig eines nach dem anderen in den Mund. „Ich pack’ das nicht mehr mit dir. Meine Frau ist eifersüchtig auf ein Hausmädchen. Als ob ich mit so einer.... Du bist doch tatsächlich“....
„Was bin ich, Marcel?“
„Ach nichts!“ Er schob den Teller in die Mitte des Tisches und schenkte sich ein Glas Wein ein. „Möchtest du auch ein Glas?“, fragte er.
„Nein danke!“
„Wenn du alleine bist, dann bist du aber nicht so abgeneigt.“
Sofia hatte es doch gewusst, dass er den Tag, an dem sie sich betrunken hatte, nicht so einfach wegstecken konnte.
„Sei ehrlich, was hältst du von Marie?“ Marcel schaute sie an.
Sofia war überrascht über diese Frage.
„Sie ist jung und kräftig, wird also zupacken können“, fuhr er fort.
„Das ich nicht lache“, entfuhr es Sofia. „Jung ist sie. Ja, das kann man wohl sagen.“ Eine Haushaltskraft aber stellte sie sich anders vor, eben wie eine Person, die tatsächlich zupacken konnte. Aber diese Marie, war eine hochaufgeschossene, magere und zerbrechliche Person.
„Ich bitte dich Sofia. Du kennst sie doch überhaupt nicht.“
„Ha! Aber du. Natürlich!“ Sie wartete seine Antwort erst gar nicht ab, sondern fuhr fort: „Und das lange Kleid erst, das sie trug. Damit wird sie besonders gut im Haushalt arbeiten können.“
„Sofia!“, rief Marcel. „Jetzt hör’ endlich auf.“
„Aber so ist es doch.“ Sofia vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
Er kam um den Tisch herum. „Manchmal bist du schon unmöglich“, sagte er. Er beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Das tat gut, und sie hätte ihn allzu gerne gefragt, warum er das nicht öfter machte. Vielleicht waren es ja tatsächlich nur ihre Nerven und die Sache mit Tante Bertha, die sie fertig machten. Und vielleicht war es nicht einmal zu ihrem Nachteil, wenn sie nicht mehr so alleine war. Es würde ihr genügend Zeit verbleiben, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Darin musste sie Marcel schon recht geben. Natürlich wollte sie darüber mit ihm nicht reden. Er würde sich etwas einbilden darauf, dass er recht hatte. Hausarbeit war wirklich noch nie ihre Stärke gewesen.
Die nächsten Tage sah Sofia ihre Zukunft in einem besseren Licht. Diese Zuversicht legte sich wieder, als das Weihnachtsfest unmittelbar bevorstand und der Postbote das Telegramm mit der Nachricht vom Tod Tante Berthas brachte. Sofia hatte damit rechnen müssen. Und trotzdem überraschte sie diese Nachricht. Sie hatte ganz einfach den Gedanken daran verdrängt, in den letzten so zuversichtlichen Tagen.
„Sie war eine alte Frau“, wollte Marcel sie trösten.
„Ich will mich mit dir nicht darüber unterhalten“, erwiderte Sofia kurz und sie hastete in ihr Zimmer hinauf. Niedergeschlagen stützte sie ihren Kopf in beide Hände und schloss ihre Augen. Sie sah Tante Bertha genau vor sich. „Nun bist du deiner Schwester gefolgt“, murmelte Sofia. Sie tastete nach dem Tagebuch und drückte es liebevoll an sich. „Danke für alles, was du an mir getan hast.“ Ein paar Tränen tropften auf das Buch. „Ich fühle es, uns verbindet ein ähnliches Schicksal.“
Sofia hatte nicht bemerkt, wie Marcel ins Zimmer gekommen war. Als sie aufschaute und sein Spiegelbild im Fenster erblickte, sprang sie von ihrem Stuhl auf.
„Mit wem sprichst du?“, fragte er.
Читать дальше