»Erschlagen sagst du?«
»Nehme ich an. Der Kopf ist voller Blut. So genau hab ich nicht mehr geguckt. Von dir weiß ich ja, dass viele Spuren zerstört werden können.« Er nickte und setzte den Weg fort, der linker Hand von dichten Hecken gesäumt wurde, die einen Einblick in die Grundstücke verwehrte. Rechts dehnten sich die Felder bis nach Teveren. Sie gelangten zum Wegekreuz.
Claudia ließ ihren Blick kreisen. Plattes Land, so weit das Auge blickte. Im Rücken lag der Waldsaum, der das Heidegebiet begrenzte, das aus den Niederlanden herüberzog und mit Unterbrechungen bis zum Niederrhein reichte. Hier am Kreuz liefen sechs Wege zusammen. Zwei direkt ins Dorf. Der eine war der Küfenweg und der andere die Waldstraße. Die befestigte breite Straße kam direkt von der Fliegerhorst Straße und führte über die Kreuzung zum Heiderand. Sie wurde im Volksmund Panzerstraße genannt und wurde auf dem Navi mit Reitweg bezeichnet. Die Verlängerung der Waldstraße kam ebenfalls von der Heide. Der letzte Weg führte gerade zur niederländischen Grenze. Eine bekannte Landschaft, die sie jeden Tag während ihres Spaziergangs mit Edgar sah. Doch jetzt, kurz bevor sie mit dem Tod konfrontiert wurde, nahm sie andere Dinge auf, die ihr ansonsten entgingen. Jeder dieser Wege unterschied sich von den anderen. Nicht, was die Richtung anging. Nein. Sie unterschieden sich im Ausbau. Jeder war zwar für Pkw befahrbar, doch zwei besaßen keine befestigte Verbindung zu anderen Straßen. Sie führten in die Heide. Auf dem langen Wirtschaftsweg zur Weberkiesstraße fiel faktisch jeder auf, der hier fuhr. Der Küfenweg war für landwirtschaftliche Fahrzeuge zugelassen und die Waldstraße eine Anliegerstraße. Blieb die Panzerstraße als einziger eventueller schneller Fluchtweg. Doch aus eigener Erfahrung wusste sie, dass hier niemand Verkehrszeichen beachtete. Die Waldstraße wurde mehr und mehr zu einer Durchgangsstraße.
Das Dorf selbst war ein Straßendorf durch das sich die, etwa zwei Kilometer lange, Corneliusstraße schlängelte. Etwas über dreihundert Haushalte. Jeder kannte jeden. Geschäfte gab es keine, wenn sie den Gastronomiebetrieb Jägerhof ausklammerte. Faktisch die Dorfkneipe mit einem angegliederten Restaurant. Sie schüttelte die Gedanken ab.
»Wo liegt er?«, fragte sie und starrte zum Wegekreuz.
»Wir müssen näher heran. Keine Sorge, ich bleibe auf der Straße, damit deine Spuren nicht zerstört werden.« Er machte ein betretenes Gesicht, weil er sie damit immer aufzog.
Claudia machte die Schritte zum Straßenrand und sah den Sportschuh einer bekannten Firma. Ein teures Stück, wenn auch altes Modell, dachte sie. Ihre Mutter trug seit Jahren, die gleichen, und schwor darauf. Das führte dazu, dass sie sich im Internet zehn Paare bestellte, bevor sie nicht mehr auf dem Markt waren. Die, den Schuhen anhängende, Gestalt lag im hohen Gras und wurde durch einen Strauch verborgen. Sie zückte ihr Smartphone.
»Thilo? Jetzt haben wir tatsächlich eine Leiche.« Sie beschrieb ihm den Weg und überlegte, ob sie das Präsidium benachrichtigen sollte. Das konnten die Kollegen tun.
»Frau Plum. Das war ein niederländisches Fahrzeug. Gestern Abend. Ich dachte, es wäre wieder Müll. Wer konnte ahnen, dass hier ein Mensch abgekippt wurde.
Die junge Frau, die sie ansprach, wohnte drei Häuser von Ihrem Haus auf der anderen Seite der Waldstraße. Sie sprach ihren Namen unsicher aus. Denn neu für das Dorf war, dass sie ihren Mädchennamen behielt. Für eine Zugezogene war das nicht tragisch. Sie brachte das dynastische Gefüge und die Besitzverhältnisse der Einheimischen nicht durcheinander.
»Einen Augenblick bitte.« Der Name der Nachbarin fiel ihr nicht ein. »Meine Kollegen sind jeden Moment hier.« Sie zuckte entschuldigend die Schultern. »Urlaub. Ich darf nicht arbeiten.« Sie wandte sich Kurt zu. »Wir gehen«, flüsterte sie. »Sonst kann ich meinen Urlaub vergessen.«
Er nickte und nahm sie am Arm. Kurt werkelte an dem alten Bauernhaus, dessen Rückseite zum Heidegebiet hinaus ging. Zwischen dem Saum des Waldes und der Grundstücksgrenze lagen keine dreihundert Meter. Zurzeit baute er einen alten Kuhstall zum Pferdestall um. Drei Baustellen auf dem Grundstück entsprachen der Norm. Es konnten auch manchmal vier oder fünf sein. Der Job ließ ihm im Grunde wenig Zeit für die Restaurierungsarbeiten. In dieser Hinsicht war er eigensinnig nach dem Motto: Selbst ist der Mann. Erst seit dem er Claudia kannte, ging er den Alltag geruhsamer an. Na ja … ganz so freiwillig kam das Kürzertreten nicht. Kurt steckte seine Nase immer wieder in Claudias Fälle. Diese Vorwitzigkeit brachte ihn fast um. Ein Gutes entwuchs aus dieser Angelegenheit: Ihm wurde klar, dass es mehr im Leben gab. Von Haus aus hatte er einiges in petto, sodass er die feste Beschäftigung bei der RWTH reduzierte. Jetzt erledigte er viele berufliche Aufgaben von zu Hause. Das wiederum gab ihm Flexibilität, in Claudias Arbeit hineinzuwirken. Claudia beobachtete die Entwicklung mit zwiespältigen Gefühlen. Zudem war Kurt ein Leichenspürhund. Wenn es im Umkreis von zwanzig Kilometern eine Leiche gab, stolperte er darüber. Was nicht immer ohne Komplikationen blieb.
*
Kapitel 4 (Rückblick Februar/März)
»Herrschaften. Ich bitte um Ruhe.« Das große Zelt war gut gefüllt. Knappe dreihundert Personen saßen auf den klappbaren Holzstühlen. Ausgewählte Bürger des Dorfes, über achtzehn Jahre, bekamen vor wenigen Tagen die Einladung zu dieser Veranstaltung. So richtig wusste niemand, worum es ging, jedoch die Gerüchteküche kochte in den letzten Wochen. Angeblich ging es um viel Geld. »Bitte Ruhe«, ertönte die, durch Lautsprecher verstärkte Stimme von Werner Böttcher. Langsam verebbte das Gemurmel und gespannte Stille breitete sich aus.
»Meine Damen und Herren, liebe Freunde, ich wende mich heute in einer ungewöhnlichen Angelegenheit an Sie. Das Dorf hat geerbt.« Applaus brandete auf und es dauerte einige Zeit, bis die Erregung sich legte. »Die Schützen, und hier der gesetzliche Vorstand, wurden zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Ich möchte Sie nicht lange auf die Folter spannen, muss jedoch einige Dinge klarstellen, sonst geht das Erbe verloren. Der Nachlassgeber macht strenge Vorgaben, bevor das Erbe angetreten werden kann. In den letzten Tagen, ich kann sagen Wochen, hat es viel böses Blut gegeben, weil meine beiden Mitstreiter im Vorstand und ich, nichts sagten … nichts sagen durften. Hier und heute geben wir bekannt, was Sie, entsprechend dem Willen des Verstorbenen, wissen sollen. Die Eröffnung des Testaments erfolgt Schritt für Schritt und über einen langen Zeitraum. Oberste Prämisse: Über das Testament darf außerhalb des Ortes kein Wort verloren werden. Sollte es dennoch geschehen, ist das Erbe futsch. Das Wissen darüber muss, ich wiederhole: Muss im Dorf bleiben. Betroffen sind die Mitbürger, die am 31. Dezember 2013 ihren Wohnsitz hier hatten. Der Erblasser hat an die Ausschüttung des Erbes einige Bedingungen geknüpft.«
»Wie viel?«, rief jemand aus dem Publikum.
»Ja. Wie viel?«, schlossen sich andere an.
Es dauerte einige Zeit, bis wieder Ruhe herrschte.
»Summen sind uns nicht bekannt. Aber es soll sehr viel Geld sein. Doch, wie gesagt, die Bedingungen müssen erfüllt werden. Also Ruhe bitte, es ist wichtig. Wie sie bemerkt haben, sind nicht alle Einwohner des Dorfes hier. Zwar sind alle Mitbürger erbberechtigt, jedoch sind die Bedingungen des Erblassers von den Einwohnern zu erfüllen, deren Wurzeln hier liegen, beziehungsweise, deren Familien seit mindestens fünfundsechzig Jahren hier leben. Stichpunkt ist der einunddreißigste Dezember vergangenen Jahres. Familien und deren Nachkommen, die nach 1948 hierher gezogen sind, werden von den Auflagen des Erblassers befreit. Sie kommen für eine Ausschüttung nur dann in Betracht, wenn Sie, die hier Anwesenden, die Bedingungen erfüllen. Dazu komme ich später. Fürs Protokoll: Die Vorgaben haben wir bei unserer Einladung berücksichtigt.«
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