Die Vorstandsversammlung, die er einberief, schlug hohe Wellen. Unmöglich, dass der Vorsitzende den Termin alleine wahrnahm. Dafür war das Misstrauen zu groß, er könne sich selbst bereichern. Alle Versuche die Mannschaft klein zu halten, schlugen fehl. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde für Mittwoch zwischen den Feiertagen ein Kleinbus gemietet. Der gesamte Vorstand, sage und schreibe sechzehn Mitglieder, begab sich in erwartungsvollem Optimismus auf den Weg nach Düsseldorf. Die Anspannung, unter der sie standen, lag auf ihren Gesichtern. Niemand besaß das kleinste Zipfelchen Ahnung, wer wohl der Gönner war. Sie gingen wieder und wieder die Verstorbenen der letzten Monate und Jahre durch. Doch da war nichts, zumindest nicht für die Bruderschaft. Der Nachlass von denen ging an die Familien.
Nach gut einer Stunde drängelten sie im Vorraum des Notariats.
»Wer ist der Vorsitzende?«, fragte die junge Frau aus dem abgeteilten Bereich heraus. Fünf Schreibtische wurden durch einen Tresen von dem Vorraum abgetrennt. »Den stellvertretenden Vorsitzenden und den Kassierer benötige ich auch.«
Werner Böttcher und die beiden Kollegen traten vor. Sie nannten ihre Namen. Die Notariatsgehilfin bat um die Ausweise und verglich die Daten mit dem Vereinsregisterauszug, der ihr vorlag. »Die Personalausweise bekommen Sie gleich von Herrn Brück zurück.« Sie trat in den Vorraum. »Darf ich Sie bitten.« Die junge Frau öffnete eine Tür. »Bitte.« Werner Böttcher, Günter Franke und Siegfried Boll betraten den Raum … und die Mannschaft drängte nach.
»Meine Herren, so geht das nicht. Der Vorstand wurde einbestellt, nicht die gesamte Bruderschaft.«
»Wir sind der Vorstand«, sagte Jakob Senden aufgeregt. »Ich bin der zweite Kassierer.«
»Ich bin der Hauptmann«, meinte Heiner Giersch. »Ich habe das Sagen, wenn wir außerhalb unseres Dorfes agieren. Das sind wir schließlich. Lassen Sie mich durch.« Er stotterte bei der Missachtung seiner Person.
»Das mag sein.« Die Gehilfin nickte betrübt. »Aber hier geht es um den gesetzlichen Vorstand und der wird durch diese drei Herren repräsentiert. Sie werden nicht gebraucht.«
»So haben wir nicht gewettet.« Heiner Giersch packte die Frau an der Schulter.
»Halt«, rief Werner Böttcher mit gedämpfter Stimme. »Fass die junge Dame nicht an. Wir sind der gesetzliche Vorstand. So ist das nun mal. Ihr setzt euch am besten in das Restaurant, dort, wo der Bus parkt und nehmt ein Frühstück auf den Verein.« Er baute die gar nicht mal so imposante Figur resolut vor den anderen auf.
»Das habt ihr euch gedacht.« Jakob Senden trat nach vorn. »Ihr könnt uns nachher erzählen, was ihr wollt.«
»Bevor wir einen Aufstand machen«, meinte Siegfried Boll, »verzichten wir auf das Erbe oder was immer es sein mag. Dann werden wir wieder normal. Ich hab keine persönlichen Aktien hier.« Er trat zwischen die Männer. »Außerdem stinkt mir das Misstrauen, das ihr uns entgegen bringt.«
»Genau«, meinte Günter Franke, der an und für sich nie viel sagte.
»Gut«, Giersch gab nach. »Da können wir nichts machen.« Jeder sah, wie schwer ihm die Worte fielen. Der Hauptmann redete ansonsten ein gewichtiges Wort mit. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die satzungsgemäße Regelung vor der gesetzlichen keinen Bestand hatte. »Wir treffen uns später im Restaurant.« Der verkniffene Gesichtsausdruck besagte alles.
»Guten Tag meine Herren.« Notar Brück betrat das Büro. Die drei Schützen saßen um den runden Tisch, der acht Personen Platz bot. »Sie haben sich bei meiner Mitarbeiterin ausgewiesen.« Er schob die Personalausweise in eine Reihe, bis sie exakt ausgerichtet vor ihm lagen. »Ihre Bruderschaft, die durch Sie vertreten ist, wurde von Herrn Beatus Basketmaker zur Testamentsvollstreckerin seines Nachlasses erklärt.«
Die drei Schützen sahen sich verständnislos an und schüttelten leicht den Kopf. Den Namen kannte niemand von Ihnen.
»Ich muss gestehen, vor mir liegt das ungewöhnlichste Testament, das mir je untergekommen ist.« Das Gesicht des ungefähr sechzigjährigen Mannes trug einen bekümmerten Ausdruck. »Aber das habe ich nicht zu beurteilen.«
*
Es war zum Mäusemelken. Am heiligen Sonntag und auch noch zu einer saublöden Zeit ein Mord. Das fehlte noch, dass er den Tatort im Fernseher verpasste. Heute kam sein Lieblingsteam: Klara und Perlmann vom Bodensee. Seitdem er vor einigen Jahren die Insel Mainau besuchte, liebte er dieses Team, das um Konstanz herum ermittelte. Aber er konnte sich die Sendung ja später auf dem PC reinziehen.
Oberkommissar Ägidius Habakuk Schmitt, Schmitt ohne Zusatz, das war bei diesen Vornamen nicht nötig, betrachtete aus einiger Entfernung den möglichen Tatort. Schmitt sah aus, wie der Ritter von der traurigen Gestalt. Eins neunzig, hager, fast dünn, die Schultern ein wenig nach vorn gebogen, als trüge er eine unbekannte Last. Die kupferfarbene, nicht zu bändigende Haarpracht stand wirr vom Kopf. Viele kleine Locken ringelten in die hohe Stirn. Unter buschigen Augenbrauen musterten grüne Augen die ach so unwürdige Welt, mit der er auskommen musste. Unter der geraden, fast römischen Nase verzog sich der Mund, mit den vollen Lippen, missmutig nach unten. Nicht etwa, weil es der Situation entsprach, nein, dies war der übliche Ausdruck. Das breite Kinn trug eine senkrechte Kerbe.
Das Gesicht zeigte abweisende blasierte Züge, die so gut wie jeden davon abhielten, ihn anzusprechen. Ägidius trug Jeans, aber kein Modell von Mustang oder Wrangler, sondern die Arbeitshose von van Cranenbroek, die es dort schon für unter fünfzehn Euro gab. Die Hose schlackerte um die Beine. Dazu ein blau kariertes Hemd, eben ein Arbeitshemd aus dem gleichen Laden. Die ausgelatschten Sportschuhe hatten auch schon einige Jahre auf dem Buckel.
Im Grunde war der Oberkommissar kein schwieriger Mensch. Wer ihn und seine Art zu nehmen wusste, kam gut klar. Aber wehe nicht. Wenn Zeit für den Job war, dachte er ausschließlich daran und in der Freizeit, eben an die Freizeit. Es war ganz einfach.
Mit einigen Dingen im Leben konnte er nichts anfangen. Dazu zählten vor allen Dingen Menschen. Nicht, dass er sie hasste. Nein. Sie waren ihm gleichgültig. Schon manch einer fragte sich, weshalb er Polizist wurde und für die Allgemeinheit arbeitete. Das war ganz einfach. Wenn er mit Menschen nichts anfangen konnte, bedeutete das nicht, dass er sie nicht studierte. Das gehörte zu seinen Prinzipien. Den Sachen auf den Grund gehen. Das führte dazu, dass er als junger Mensch zunächst Lehramt studierte. Für ihn war das eine Möglichkeit, die Fehler, die Lehrpersonen, nach seinem Dafürhalten, an ihm begangen hatten, für weitere junge Menschen auszuschließen. Bis zu seinem Referendariat. Er würde wohl, zumindest im Bundesland Nordrhein Westfalen, nie mehr als Lehrperson eingestellt werden.
Es war fast genauso, wie zu der Zeit, als er in einer Supermarkt Filiale einen Ferienjob annahm und das Warenordnungssystem in den Verkaufsregalen revolutionierte. Er setzte seine Vorstellung von Ordnung und Verkaufsstrategie um. Beim Supermarkt Süd hatte er Hausverbot.
Mehr zufällig geriet er in die Polizeilaufbahn. Jetzt stand er in diesem Heidedorf und musste sich mit diesem Fall beschäftigen. Schmitt kam aus Düsseldorf, weil die Aachener Kollegen eine seltsame Urlaubsregelung praktizierten. Das gesamte Kommissariat zum gleichen Zeitpunkt ausgeflogen. Beknackt.
»Halte den Penner dort auf.« Schmitt schreckte hoch. Der uniformierte Kollege wies einen anderen Beamten an, der sich dem Oberkommissar prompt in den Weg stellte.
»Schmitt«, sagte er kurz und drückte den Mann zur Seite.
»Haben Sie noch alle Tassen im Schrank. Das ist ein Tatort und außerdem … lege dich zu deinen Kollegen dort hinten«, er zeigte auf eine kleine Baumgruppe an der Ecke Waldstraße und Panzerstraße. Der Küfenweg, auf dem sie sich befanden, endete ebenfalls dort. In dem Wäldchen, an der Kreuzung, ,rasteten‹ schon mal Obdachlose, die unterwegs waren.
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