London 12. Januar 2000 – Tempel der United Grand Lodge
»Werte Brüder, ich begrüße Sie im Namen des Vorstands zu unserer heutigen Versammlung. Sie kennt nur ein einziges Traktandum, wie ihr alle wisst. Doch es ist ein besonderer Beschluss, den wir heute gemeinsam fällen werden. Es geht um unser neues Dekadenprojekt.«
Der Vorsitzende der United Grand Lodge machte eine Pause und blickte sich um. Aron Finestone war fünfundfünfzig Jahre alt und stand seit vier Jahren den vereinigten Freimaurerlogen Großbritanniens vor. Der Mann strahlte eine Aura der Selbstsicherheit und der persönlichen Disziplin aus. Seine kurze Hakennase ähnelte dem Schnabel einer Eule und seine Augen, durch die randlose Brille mit den dicken Gläsern unnatürlich vergrößert, verstärkten diesen Eindruck noch. Sein Gesicht war eingerahmt von einem weißen, aber immer noch dichten Kopfhaar. Er trug es unüblich lang für einen Mann in seinem Alter und seiner Position, vielleicht ein letzter Rest einer früher unangepassten Natur, die seit langer Zeit und im Interesse seiner beruflichen Tätigkeiten unterdrückt wurde.
Die Arbeit als Partner in einer sehr angesehenen Londoner Anwaltskanzlei hatte ihn in den letzten zwei Jahrzehnten innerlich gefestigt, ja richtiggehend gestählt. Er war ein belesener, umsichtiger Mann, der jedoch auch hart zupacken konnte. Beruflich hatte er sich auf die Verteidigung großer Unternehmen in Rechtsstreitigkeiten mit der Europäischen Union spezialisiert. Sein Stundenhonorar betrug über eintausend Pfund und er war stolz darauf, trotzdem ein äußerst gefragter Mann zu sein. Doch wer als Konzern in die Fänge der EU geriet, musste mit Bussen in dreistelliger Millionenhöhe rechnen. Da fielen Anwaltshonorare, egal in welcher Höhe, kaum mehr ins Gewicht.
Unter den Meistern der Freimaurerloge saß auch der Schweizer Jules Lederer. Neben ihm hatte sein guter Londoner Freund Henry Huxley auf der langen Eichenholzbank Platz genommen. Henry war es auch, der Jules nach ihrem ersten gemeinsamen Abenteuer vor drei Jahren gefragt hatte, ob er sich vorstellen könnte, ebenfalls Freimaurer zu werden. Lederer war interessiert und Huxley empfahl ihn seinem Orden, begleitete ihn auch auf seinem Einführungsweg über den Eintritt als Lehrling, über die Stufe des Gesellen bis hin zur Entwicklung zu einem der Logenmeister.
Wie alle Übrigen im Saal hatten Henry und Jules ihren Kopf zum Rednerpult gedreht und blickten gespannt auf den Vorsitzenden. Auch Huxley war noch keine zehn Jahr Vertreter ihrer Londoner Loge in der United Grand Lodge und darum wie Lederer das erste Mal bei der Verkündung eines neuen Dekadenprojekts dabei. Jules trug einen schwarzen Smoking, Henry hat sich für einen dunkelblauen Anzug mit Weste entschieden. Wie alle anderen Anwesenden hatten auch sie sich die traditionelle weiße Steinmetzschürze umgebunden und verschiedene Embleme an ihr Revers gesteckt.
Die Losung für den Einlass in den Tempel lautete an diesem Abend Once upon a time , ein überaus treffendes Schlüsselwort für den Zweck dieses Anlasses.
Die Wände des unterirdischen Tempelraums bestanden aus roh behauenen Steinen. Daran hingen Gemälde aus drei Jahrhunderten. Sie zeigten alle Vorsitzenden der United Grand Lodge seit ihrer Gründung im Jahre 1717. Einige der Maler waren schon damals sehr gefragte Künstlern gewesen und wurden heute hoch gehandelt. Ein Sachverständiger wäre angesichts der Fülle an berühmten Malern erst entzückt gewesen, danach sprachlos. Er hätte eine ganze Reihe von Werken ausgemacht, die bislang der Fachwelt vorenthalten geblieben waren und die auf einer Auktion viele Millionen Pfund eingebracht hätten.
Nach einer kurzen Pause fuhr der Vorsitzende Finestone fort: »In den nächsten zehn Jahren wollen wir uns einem weiteren Rätsel der Menschheitsgeschichte stellen und versuchen, es zu lösen. Logenmitglieder aus dem ganzen Land haben uns Hunderte von offenen Fragen zugesandt. Einige unserer Vorstandsmitglieder bildeten einen Projektausschuss, der alle Eingaben bewertete und sie nach Interessenlage gewichtete, sie aber auch auf ihre Umsetzbarkeit hin prüfte. Die besten drei Projekte liegen dem Vorstand seit letztem Dezember vor. Für die immense Vorarbeit bedanke ich mich im Namen des Vorstands bei den Mitgliedern des Ausschusses.«
»Alle anwesenden Logenvertreter kennen bereits die drei Vorschläge. Wir haben sie in unserer Einladung ausführlich vorgestellt. Welches Rätsel der Menschheit aber diesmal von uns zu lösen sein wird, darüber hat der Vorstand erst gestern Abend endgültig entschieden.«
Finestone machte eine Pause und griff nach seinem Glas mit stillem Wasser, das auf dem Tisch neben dem Rednerpult stand, nippte kurz daran und stellte es danach etwas umständlich wieder zurück, räusperte sich laut und ließ dann seinen ruhigen Blick noch einmal über alle Anwesenden im Saal schweifen. Er schien sich noch einmal versichern zu wollen, dass ihm auch wirklich jeder zuhörte. Endlich fuhr er fort.
»Angesichts der zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung von China in der Welt haben wir uns entschlossen, in den nächsten zehn Jahren herauszufinden, welche Fahrten der kaiserliche Eunuch und Admiral Zheng He im fünfzehnten Jahrhundert mit seiner Flotte vollbrachte. Wir wollen herausfinden, welche Teile der Erde von ihm tatsächlich besucht und eventuell auch besiedelt wurden. Stimmt unser europäischer Blick zur Entdeckung der Erde? Oder müssen wir die Geschichte umschreiben?«
Schon bei der Nennung von Zheng He hatte sich ein allgemeines Gemurmel im Saal erhoben. Viele der Anwesenden hatten auf eines der anderen beiden Projekte getippt. Jules dagegen lächelte Henry äußerst zufrieden an, denn er hatte von seinem Freund aufgrund ihrer kleinen internen Wette soeben eine köstliche Flasche Chateau Latour 1970 gewonnen. Jules hatte auf den großen chinesischen Seefahrer gesetzt, während Henry überzeugt war, dass man diesmal dem verlorenen Sonnentempel der Chibchas in Südamerika nachspüren würde, um endlich die Sage über Eldorado ein für alle Mal zu klären. Henry blickte seinen Freund darum recht zerknirscht an. Ihm ging es nicht um die teure Flasche Wein. Der Brite verlor bloß sehr ungern.
Der Vorsitzende der Versammlung nahm den kleinen Hammer vom Rednerpult hoch und schlug einmal heftig und knallend auf den Holzteller daneben. Die diskutierenden Stimmen im Raum verstummten augenblicklich und die Köpfe ruckten wieder zu Finestone nach vorne.
»Die exakte Fragestellung zu Projekt 32 lautet also: Welche Länder und Erdteile hat die sogenannte Schatzflotte unter dem Kommando des Chef-Eunuchen Zheng He nachweisbar erreicht. Welche Entdeckungen müssen wir ihm und seinen Männern zuordnen? Warum stellten die Chinesen nach 1433 ihre Seereisen plötzlich ein?«
Wieder machte Finestone eine Kunstpause, ließ seine Worte wirken, bevor er entschlossen weiterfuhr.
»Wie bei jedem unserer Dekadenprojekte wählen wir nun gemeinsam den verantwortlichen Leiter. Ihr alle wisst, dass jedes Mitglied der United Grand Lodge verpflichtet ist, eine allfällige Wahl anzunehmen und sich nach besten Kräften einzusetzen. Die Loge stellt die notwendigen Geldmittel wie immer zur Verfügung. Organisation und Führung des Projekts liegen jedoch vollumfänglich bei dem gewählten Mitglied. Ein Projektausschuss wird die Tätigkeit des Projektleiters überwachen und sich von ihm regelmäßig Rechenschaft über die Fortschritte und die Kosten ablegen lassen.«
Im Saal breitete sich eine neue Unruhe aus, denn die Kandidaten für den Posten des Projektleiters waren bis zu diesem Zeitpunkt nur dem Vorstand bekannt. Darum hingen nun die Augen sämtlicher Anwesenden noch stärker an den Lippen von Finestone, als dieser weitersprach.
»Uns wurden in den vergangenen Wochen vier mögliche Kandidaten empfohlen. Einen musste das Direktorium allerdings von vornherein ablehnen. Die Gründe hierfür sind vertraulicher Natur. Es stehen uns jedoch drei ehrenwerte und fähige Logenmitglieder zur Auswahl. Es sind dies Sinclair St. James, Enrico Fabio della Rossa und Jules Lederer.«
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