Mit diesen entmutigenden Gedanken betrat sie das monströse Gebäude, das einmal eine Verheißung für sie gewesen war. Inzwischen empfand sie es nur noch als Vorsehung. Im Aufzug atmete sie noch einmal tief durch. Dann betrat sie das Büro.
Schlagartig setzten alle Geräusche aus. Kein Klappern der Tastatur, kein Gemurmel unter Kollegen, kein Klirren von Kaffeetassen – nur Stille. Alle Blicke hafteten auf Britta, wie sie ihren Schreibtisch inmitten der vielen Tische ansteuerte. Das hatte sie schon kommen sehen. Inzwischen wusste jeder, was ihr am Wochenende widerfahren war. Es hatte groß und breit in der Zeitung gestanden. Direkt auf der ersten Seite. Mit Bild. Pietro Pardi hatte kein Detail ausgelassen – ob es der Wahrheit entsprach oder nicht, war ihm egal. Hauptsache Schlagzeile.
Sie durchwühlte die Schublade, in der Hoffnung ihre Kaffeetasse zu finden, als sie Wallbrods Fistelstimme hörte: „Britta Ballhaus. Bitte in mein Büro.“
Erschrocken ließ sie alles aus ihren Händen fallen und folgte dem Ruf des Chefs. Kaum war die Tür hinter dem kleinen, übergewichtigen Mann geschlossen, vernahm Britta gedämpftes Gemurmel der Kollegen. Auch glaubte sie, wieder das vertraute Klappern von flinken Fingern auf Tastaturen zu hören.
„Zählen wir die Ereignisse des Wochenendes auf“, begann Wallbrod mit bedrohlich leiser Stimme zu sprechen, „Markus Gronski wird entlassen. Wir alle in der Abteilung wissen von dem Mord an Ernst Gerlach, den er begangen hat. Auch wenn wir damals noch nicht alle im Polizeidienst waren.“
Britta nickte.
„Einen Tag nach Gronskis Entlassung wird der Sohn des damals Ermordeten ebenfalls getötet. Und Sie stolpern zufällig über seine Leiche. Und das zufällig in der Wohnung Ihrer Freundin, die behauptet, zufällig bei diesem Mann zu arbeiten. Ein bisschen viel Zufall, finden Sie nicht auch?“
Britta fühlte sich wie versteinert. Jetzt nur nichts Falsches sagen, ermahnte sie sich. Also legte sie eine dümmliche Miene auf, was ihr glänzend gelang, wie sie der nächsten Bemerkung ihres Chefs entnahm. „Dumm gucken können Sie schon mal. Jetzt will ich endlich sehen, dass Sie als Frau tatsächlich für die Arbeit in einer Mordkommission taugen. Ich werde Sie nämlich diesen Fall bearbeiten lassen.“
Brittas Augen bekamen ein Strahlen. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit.
„Aber freuen Sie sich nicht zu früh.“ Der Dämpfer musste ja kommen. „Ich werde Sie keinen Schritt alleine machen lassen. Sollten Sie nämlich versuchen, Ihre Freundin zu schützen, werden wir das herausfinden. Norbert Böker wird Sie auf Schritt und Tritt begleiten.“
Britta spürte, wie ihre anfängliche Euphorie schrumpfte. Aber - wenn sie es sich richtig überlegte - hätte es schlimmer kommen können. Norbert Böker war ein Schwätzer und Schwerenöter. Aber harmlos. Den steckte sie zehnmal in die Tasche.
„Sie werden jetzt zusammen mit Böker zur Rechtsmedizin fahren. Soweit ich weiß, wartet der Arzt schon auf Sie, damit er endlich beginnen kann, den Toten aufzuschneiden.
♦
Der Rechtsmediziner erwies sich als Frau. Den weiblichen Begriff für bestimmte Berufe oder Ämter wandte Wallbrod grundsätzlich nicht an, weil er diese Formulierungen strikt ablehnte. Hinzu kam, dass Britta diese Rechtsmedizinerin besonders gut gefiel. Sie war einen Meter achtzig groß, fast genauso breit und galt als Urgestein in der medizinischen Forensik. Außerdem hatte sie Gefallen an Britta gefunden.
Norbert Böker wirkte neben dieser dominanten Frau blass und eingeschüchtert. Kein ordinärer Witz kam über seine Lippen, keine anzüglichen Bemerkungen. Sogar Britta ließ er in Ruhe, wenn Dr. Hilde Gesser in der Nähe war. Allein diese Tatsache genügte ihr, eine Autopsie positiv zu betrachten. So musste sie sich zwar Innereien von Ermordeten anschauen, brauchte sich aber nicht ständig gegen Bökers Annäherungsversuche zu wehren. In diesem Räumen war Böker kaum wahrzunehmen.
„Erst der Vater – dann der Sohn“, lautete die Begrüßung.
„Kanntest du den Fall Ernst Gerlach?“, fragte Britta überrascht.
„Oh ja. Das war mein erster Fall in meiner Assistenzzeit. So etwas vergisst man nicht.“ Angenehm vibrierte die dunkle Stimme der Ärztin durch die gekachelten Räume. Ihr Körper war bereits in grüne Kittel gehüllt, die vermutlich Zeltgröße hatten, um auch die gesamte Fülle abdecken zu können.
Britta und Norbert bekamen ebenfalls ihre Schutzkleidung gereicht. Sie traten auf den Stahltisch zu, auf dem Thomas Gerlach lag.
Britta erschrak.
Nackt und tot wirkte Thomas Gerlach hilflos und unscheinbar. Nichts war mehr von seiner Schönheit, seiner Ausstrahlung und seinem Charisma zu sehen. Er war einfach nur noch eine Hülle, die jetzt aufgeschnitten werden musste.
Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, weil sie Thomas gekannt hatte. Aber nicht nur sie. Auch Norbert und die Rechtsmedizinerin hatten mit diesem Mann zu tun gehabt. Als Anwalt für Strafrecht war er ihnen jederzeit in die Quere gekommen.
Britta schaute sich verstohlen um. Niemand außer ihr schien das so zu empfinden. Dr. Gesser sprach in geschäftigem Tonfall in ihr Diktiergerät, Norbert suchte sich einen Platz, der weit genug entfernt war, damit ihm die Gerüche nicht unmittelbar in die Nase stiegen. Assistenten legten Skalpelle, Scheren, Oszillationssägen und sonstige Utensilien bereit.
Die Arbeit ging los.
„Nach der äußeren Untersuchung kann ich bereits eine Stichwunde in der Herzgegend feststellen. Den Stichkanal habe ich ausgefüllt, um die Waffenart und den Stichverlauf bestimmen zu können. Die Waffe ist ein Messer mit zweischneidiger Klinge. Der Wundkanal zeigt an, dass auf der rechten Seite des Herzens die Arteria coronaria dextra verletzt wurde. Durch diese Verletzung ist ein hoher Blutverlust entstanden, weil es sich um eine Koronararterie handelt. Das ist ein Blutgefäß im Herzen, das ständig sauerstoffreiches Blut in die Hinterwand und die rechte Herzkammer pumpt. Jetzt gilt es für mich festzustellen, ob er verblutet oder an einem Infarkt gestorben ist. Fakt ist jedoch, dass diese Stichwunde indirekt tödlich war.“
„Heißt das, er hat noch gelebt, als ihm das Messer wieder aus der Brust herausgezogen worden ist?“, fragte Britta erschrocken.
„Ja. Ich weiß aber nicht, wie sein Bewusstseinszustand war – also ob er noch mitbekommen hat, was mit ihm passiert ist.“
„Die Todesursache wissen wir also schon“, mischte sich Norbert in das Gespräch ein. „Dann können wir wieder zurückfahren.“
„Ich bin mit meinen Untersuchungen noch nicht fertig“, stellte die korpulente Frau klar. „Noch können wir keine abschließenden Schlussfolgerungen ziehen.“
Norbert gab sich geschlagen.
Als die Oszillationssäge angeworfen wurde, um die Hirnschale zu öffnen, konnten Britta und Dr. Gesser den jungen Mann nur noch von hinten sehen, wie er den Sezierraum fluchtartig verließ.
„Und so was arbeitet bei der Polizei“, murmelte Hilde Gesser, während sie ihre Arbeit fortsetzte.
Britta gab sich Mühe, standhaft zu bleiben, obwohl ihr Magen auch schon rebellierte. Aber sie wollte sich keine Blöße geben. Weder vor Dr. Gesser noch vor den Kollegen.
Zum Abschluss ihrer Untersuchungen sagte die Ärztin: „Die Todesursache ist der hohe Blutverlust durch Herzstich. Der Todeszeitpunkt liegt zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr.“
Britta schrieb mit.
„Die einzige Überraschung, die ich finden konnte, ist die Vasektomie. Warum lässt ein junger, aufstrebender Anwalt einen solchen Eingriff an sich vornehmen.“
„Vasektomie?“, hakte Britta nach.
„Sterilisation. Oder genauer gesagt, Durchtrennung der Samenleiter im Hodensack.“
„Heißt das, Thomas Gerlach war nicht mehr zeugungsfähig?“
„Genau das.“
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