Gerhard Schumacher - Vermintes Gelände

Eben weil ich vom Fach bin und um die Dinge besser bescheid weiß als ein Nichtmediziner, gehe ich nicht hin, ich will ganz einfach nicht bestätigt wissen, wenn ich einen tödlichen Gast im Körper habe. Wenn ich jünger wäre, ja dann vielleicht, aber in meinem Alter? Mein Leben habe ich gelebt, und zwar nicht schlecht. Gerade so wie ihr alle, unterstelle ich mal. Alles, was jetzt noch kommt ist Zugabe. Der Bonus-Track sozusagen. Man muss auch nicht zu pingelig sein, oder?

Na ich weiß nicht, sagte die Bergmann, das wäre nichts für mich, da könnte ich nicht mit leben. Schließlich kann ich ohne weiteres noch zwanzig Jahre vor mir haben, wenn ich weiter gesund lebe.

Es sei dir vergönnt, erwiderte Strecker, werde alt und weise ohne klappernde Krebsscheren. Aber wir kennen doch alle unseren Kolb, den alten Zyniker. Das war doch schon früher so mit ihm. Außerdem, einen flotten Spruch rauslassen ist eine Sache, die gelebte Praxis dagegen eine andere. Denkt doch nur mal an uns selbst. Wir haben doch versucht, nach unseren Parolen zu leben. Und wir sind gescheitert. Und zwar an Kleinigkeiten, nicht an grundsätzlichen Fragen.

Hornung war dabei die Suppentassen einzusammeln und auf ein Tablett zu stellen. Gescheitert sind wir nicht an Kleinigkeiten wie dem Küchendienst, sagte er dann, das stimmt einfach nicht Strecker. Gescheitert sind wir an der Korrumpierbarkeit des menschlichen Charakters und an der Fähigkeit des Systems, selbst die radikalste Kritik an sich selbst zu vereinnahmen und zu seinen Gunsten zu drehen, an nichts anderem. Und zur Ehrenrettung von Kolb will ich nur sagen, ich traue ihm durchaus zu, das, was er sagt, auch durchzuführen. Den Gegensatz von Theorie und Praxis, den du da konstruierst, halte ich in diesem Zusammenhang für unangebracht. Doch wir wollen nicht gleich am ersten Abend streiten, wir haben noch ein paar Stunden in diesem Haus vor uns. Genug jedenfalls, um sich trefflich in die Haare zu kriegen. Das muss ja nicht gleich alles heute Abend über die Bühne gehen. Übrigens, es ist noch Suppe da, wer einen Nachschlag haben will, wird unverzüglich versorgt. Also was ist?

Was kommt denn nach der Suppe, fragte die Lenz. Sie hat ausgezeichnet geschmeckt und ich würde gerne noch ein Tässchen nehmen, will aber auch nicht schon satt sein, bevor die anderen leckeren Sachen überhaupt auf dem Tisch stehen.

Also im Anschluss gibt es einen ordinären Krustenbraten, Bayrischkraut und Speckknödel, sagte Hornung, ich habe mich heute auf gemeine Hausmannskost eingeschossen, Morgen geht's dann etwas feiner zu. Ach so, ja, zum Dessert habe ich so eine Art Tiramisu nach meiner Facon kreiert. Zufrieden?

Klasse Alter, Kolb hielt ihm seine Suppentasse hin, eine geht noch rein.

Ich schließe mich an, sagte Strecker, die Genossinnen hier streiken wohl, oder?

Wir achten eben auf unser revolutionäres Äußeres, erwiderte die Lenz spitz, was man nicht von allen hier am Tisch behaupten kann. Könnt ihr euch auf der Barrikade eine Marianne mit Speckfalten, einem fetten Hintern und Hängebrüsten vorstellen?

Wenn du die Marianne gibst, dann musst du deine Titten erst einmal auspacken, zumindest eine, so will es die französische revolutionäre Tradition, allons enfant de la patrie und so weiter bis zur Guillotine. Dann werden wir ja sehen, was hängt und was nicht und wieviel Suppe und Braten und Tiramisu du noch essen darfst, antwortete ihr Strecker und ließ ein Lachen hören, das eher verbittert denn humorvoll klang.

Immer noch die alten Schweinigeleien drauf, Paul, nichts dazu gelernt in all den langen Jahren? Das tut mir leid. Oder soll ich zufrieden sein, dass du nur hart am Rand des Fotzenjargons von Baader, Ensslin und Konsorten parlierst, als wäre es unter Genossen das Natürlichste von der Welt, so miteinander umzugehen?

Die Lenz war aufgestanden und griff nach ihrem Weinglas. Für einen Moment konnte man annehmen, sie würde es Strecker an den Kopf werfen, aber dann hob sie das Glas lediglich an die Lippen und trank es aus. Kolb goss ihr nach.

Schluss jetzt, sagte Hornung, verschießt euer Pulver nicht für derartige Nicklichkeiten. Im Übrigen sollten wir die toten Genossen ruhen lassen, die können sich nicht mehr wehren. Ich hole jetzt die Suppe und schaue nach dem Braten. Und dann hoffe ich endlich auf einen angenehmen Abend.

Er stand auf und wollte in die Küche gehen.

Ich scheiß auf deinen angenehmen Abend Hornung, schrie die Lenz plötzlich los, ich scheiß auf die toten Genossen, wir konnten uns auch nicht wehren, als uns ihre krausen Papiere zur Solidarität zwingen wollten, ich scheiß auf Friede, Freude, Eierkuchen, schon gar nicht muss ich mir dieses dämliche Machogequatsche hier bieten lassen.

Strecker winkte müde ab. Hatten wir alles schon mal, diese Diskussionen um das Schamhaar der Prophetin, hat damals nichts gebracht, bringt heute auch nichts. Kann mir mal jemand sagen, um was es eigentlich geht? Doch wohl nicht um die Verbalisierung der sekundären Geschlechtsmerkmale unserer verdienten Genossinnen hier, oder? Brüste oder Titten, was macht den Unterschied aus? Die Frage war doch, und du hast sie aufgeworfen, liebe Andrea, ob sie hängen oder nicht. Mir persönlich ist das ziemlich egal, aber dir scheint die Stellung, oder sollte ich besser von Ausrichtung reden, Probleme zu bereiten. Bleiben sie standhaft oder fallen sie ab? Das ist doch das eigentliche Thema. Und wir alle wissen, dass es sich bei dieser Frage nicht um irgendwelche Titten handelt, sondern um uns selbst. Stehen wir noch oder hängen wir schon. Das allerdings ist mir dann nicht mehr gleichgültig. Aber dazu später, wenn's denn interessiert. Wann gibt's denn jetzt endlich die Suppe?

Hornung ging in die Küche und kam kurz darauf mit den Suppen für Kolb und Strecker zurück. In das Schweigen am Tisch hinein fielen lediglich die spärlichen Eßgeräusche und das Klackern der Löffel, als sie auf die Untertassen gelegt wurden.

Die Bergmann murmelte etwas davon, der Hauptgang, der jetzt käme, zähle zu ihren Lieblingsgerichten, aber keiner hörte ihr zu. Sie hätte es eben gerne deftig, sagte sie noch und verstummte schließlich.

Die Lenz drehte sich eine Zigarette und holte aus der Bibliothek den Aschenbecher. Als Hornung wieder in die Küche ging, folgte sie ihm, um sich Feuer zu besorgen.

Sag mal Andreas, ich habe da ein klitzekleines Problem, das hätte ich gerne geklärt bevor ich weiter an dieser illustren Veranstaltung teilnehme. Kannst du mir ehrlich eine Frage beantworten?

Natürlich kann ich, vorausgesetzt, ich kenne überhaupt eine Antwort auf dein Problem.

Er nahm ein Handtuch vom Küchentisch und öffnete die Tür der Bratröhre. Für einen Moment hüllte ihn dichter Wrasen ein. Hornung stellte die heiße Kasserolle auf die Herdplatte. Das feine Aroma des gekümmelten Bratens, das schon geraume Weile durch die Küche waberte, verdichtete sich. Er schnitt das Fleisch in Tranchen, die er auf einer Platte anrichtete.

Die Lenz lehnte am Spülbecken und rauchte.

Was hast du dir hier eigentlich für eine Veranstaltung ausgedacht Hornung? Suchst du Stoff für einen neuen Roman oder verschafft es dir Lust, uns zu quälen, einfach so zu deinem Plaisier, mon ami? Ich bin misstrauisch und kann mir über-haupt keinen Vers darauf machen, was du mit diesem Treffen bezwecken willst.

Allerdings habe ich einen Verdacht, es liegt an dir, ihn auszuräumen oder zu bestätigen. Auch wenn wir uns lange nicht gesehen haben, ich habe dich noch gut genug in Erinnerung und selbige sagt mir, du hast uns ganz sicher nicht ohne Hintergedanken in dein Haus geladen. Was willst du damit erreichen?

Nur um der alten Zeiten Willen sind wir nicht hier, da bin ich mir völlig sicher. Zumal Revolutionsromantik doch nie dein Ding war. Also nenne mir den eigentlichen Grund. Und zwar glaubwürdig, sonst ich bin in fünf Minuten verschwunden.