Gerhard Schumacher
Wollschlägers
Verfall einer Familie
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Inhaltsverzeichnis
Titel Gerhard Schumacher Wollschlägers Verfall einer Familie Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1 Kapitel 1 Für Roli, die unendliche Geduld mit mir hat. Für Tilman, der in Hessen das Licht der Welt erblickte. Für Jule und Alex, die erfrischenden Nachwuchs produzieren. Für Philipp und Felix, die prächtigen Enkel. Und natürlich für Fritz und seine unkonventionelle Art der Konversation Es ist traurig, an einem Ort zu leben, wo unsere ganze Wirksamkeit in sich selbst summen muß. Frankfurt bleibt das Nest … wohl um Vögel auszubrüteln, sonst auch figürlich spelunca, ein leidig Loch, Gott helf aus diesem Elend. Amen. Johann Wolfgang von Goethe
Zum Geleit
Erstens: WETZLAR
Zweitens: KILIANSTÄDTEN
Drittens: STORNFELS
Viertens: NIEDERURFF
Fünftens: ERZHAUSEN
Sechstens: NIEDENSTEIN
Impressum neobooks
Für Roli, die unendliche Geduld mit mir hat.
Für Tilman, der in Hessen das Licht der Welt erblickte.
Für Jule und Alex, die erfrischenden Nachwuchs produzieren.
Für Philipp und Felix, die prächtigen Enkel.
Und natürlich für Fritz und seine unkonventionelle Art der
Konversation
Es ist traurig, an einem Ort zu leben, wo unsere ganze
Wirksamkeit in sich selbst summen muß.
Frankfurt bleibt das Nest … wohl um Vögel auszubrüteln,
sonst auch figürlich spelunca, ein leidig Loch,
Gott helf aus diesem Elend. Amen.
Johann Wolfgang von Goethe
Nein, der Chronist hat das nachfolgend Aufgezeichnete nicht wasserdicht verschlossen nach vielen Jahren in einer Flaschenpost erhalten, noch in einer vergessenen Mülltonne gefunden oder durch dunkle Mittelsmänner zugespielt bekommen. Ein Pendant zur Handschrift von Saragossa, die Abschrift von Wetzlar etwa, gibt es nicht, hat es nie gegeben. Alles nicht wahr. Es hat sich einfach so ereignet, wie das Leben sich ereignet, ob man nun will oder ob man nun nicht will.
Woher er das dann alles weiß, der Chronist? Er weiß es eben, das muss genügen. Ein Inkognito ist nicht zu lüften, weil es schlicht keines gibt, noch weniger ein Schlüsselerlebnis oder Ähnliches. So, wie beschrieben, hat sich die Geschichte zugetragen und nicht anders. Wer es nicht glaubt, lässt es halt bleiben, wer es glaubt, auch.
Die Schauplätze und Orte sind Originale, wie sich der misstrauische Leser durch einen Blick auf die hessische Landkarte mühelos überzeugen kann. Noch besser ist es, einmal hinzufahren und sich in persona an der Tatsächlichkeit der Realität zu erfreuen. Alles ist vorhanden, wenn auch im Laufe der Jahre in einigen Details verändert. Teilweise hat auch die Abrissbirne ihr zweifelhaftes Handwerk getan. Alle Personen existierten nicht nur zur beschriebenen Zeit, sondern tun dies auch heute noch in Freude und bei bester Gesundheit, wenn auch weit verstreut außerhalb der Grenzen des beschriebenen Terroirs.
Allein der Posamentenhändler Harms soll, so wurde dem Chronisten unlängst aus zuverlässiger Quelle kundgetan, weiterhin durch die hessischen Kneipen, Gasthöfe und Restaurants toben, sein Werk zu vollenden. Mit zweifelhaftem Erfolg, wie gemunkelt wird. Wovon man ausgehen kann.
Weiters wurde dem Chronisten aus allerdings eher zweifelhafter Quelle zugetragen, die hessische Landesregierung plane, den kompletten Ort Butzbach wegen nachhaltiger Renitenz nach Sachsen-Anhalt auszulagern. Verhandlungen mit den dortigen Behörden stünden kurz vor dem Abschluss, lediglich über die Ablösesumme sei man sich noch nicht einig. Das muss aber nicht stimmen. Außerdem kommt Butzbach in der Geschichte gar nicht vor, somit ist diese Mitteilung von eher peripherer Bedeutung.
Ebenso wird berichtet, die Edertalsperre, insgesamt noch in einem leidlichen Zustand befindlich, wird für 107 Jahre an China ausgeliehen, weil die Chinesen sie bei der Begradigung des Jangtse gut gebrauchen können. Im Gegenzug schickt die Volksrepublik eine Million verdiente Arbeiter, die um Hessen eine originalgetreue Nachbildung der chinesischen Mauer errichten werden. Neben der Schutz- und Abwehrfunktion des gigantischen Vorhabens soll das Gemäuer auch noch den Fremdenverkehr ankurbeln und zu einer wesentlichen Einnahmequelle machen.
So kommt zusammen, was zusammen gehört und Hesse lacht zur Fasenacht.
Mehr gibt es von Land und Leuten derzeit nicht zu berichten, außer, wie bereits angekündigt, die folgende Geschichte.
Es sei denn.
Worin eine Wirtstochter insgeheim über ihr Leben sinniert, infolgedessen überraschend das Weite sucht, eine nette Bekanntschaft macht, ein durchgedrehter Posamentenhändler ehrenwerte Honoratioren und deren Heimat verunglimpft und ein um seine wirtschaftliche und geschlechtliche Zukunft bangender Referendar einen verwegenen Plan in Angriff nimmt.
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Die Dinge, von den zu berichten ich mich schlussendlich doch entschlossen habe, begannen in hessischen Landen, genauer gesagt, in einer verholzten Kleinstadt namens Wetzlar. An der Lahn einigermaßen idyllisch gelegen, mit Dom, Buderus- und Leitzwerken versehen, flächendeckend langweilig, trotz oder gerade wegen der Nachbarschaft zum verbrezelten Gießen, aber stellenweise hügelig und in Teilen durchaus hübsch anzusehen. Immerhin Johann Wolfgang von, der Geheime Rat, war hier, aber wo war er nicht, unser Gede, bis nach Italien hat es ihn bekanntlich verschlagen, zweimal sogar, da liegt Wetzlar, von Frankfurt aus gesehen, gleich nebenan. Allerdings hat es ihn auch nicht lange gehalten, von Mai bis September 1772, dann war Schluss mit dem Praktikum beim Reichskammergericht und bei Fräulein Buff, die folglich aus lauter Verzweiflung ihren Verlobten ehelichte. Geblieben sind das Lotte-Haus und die Leiden des jungen Werther, dann war er weg, der saubere Herr Dichter und hat sich wohl nicht mehr blicken lassen.
Mit den Leitz- und den Buderuswerken ist es übrigens auch nicht mehr weit her.
Es fing alles an zu Beginn der Neunziger, in den Jubeljahren des großen nationalen Koitus zwischen westlichem Freier und östlicher Hure, der Zeit des Aufbruchs, der blühenden Landschaften und des ungewohnten Zungenschlags. Im Gasthof Wollschläger, nahe dem Dom in der Altstadt gelegen, schenkte des Wirtes Töchterlein seit Jahr und Tag Bier und Äbbelwoi und Äbbelwoi und Bier an immer die gleichen Gäste aus, verteilte Würste, Rippchen und Jägerschnitzel auf den Tischen und lauschte verträumt den ungewohnten Tönen, die an ihr Ohr drangen, wenn sich einmal ein Fremder in die rauchgeschwängerte Gaststube verirrt hatte. Fräulein Wollschläger war bei den meist älteren Gästen, nicht zuletzt wegen ihres ansehnlichen Äußeren und ihrer umgänglichen, so gar nicht ortsüblichen Art, überaus wohl gelitten und trug mit ihrer Erscheinung zu nicht unwesentlichen Teilen zum durchaus bemerkenswerten Wohlstand der Familie bei.
Wer je diesen eigenartigen Landstrich Hessen bereist hat, ist mit der landestypischen Sitte vertraut, Menschen weiblichen Geschlechts als Neutrum zu benennen und es verwundert ihn wenig, Fräulein Wollschläger im Jargon der stammgästigen Daddels durchweg als "das Erika" bezeichnet, gerufen und tituliert zu hören, wie es in dem Gasthof allgemeine Übung, aber weiter nicht beachtenswert war.
Das Erika hatte nun die dreißig auch schon überschritten und war sich dessen durchaus bewusst. Ein junger Referendar vom Amtsgericht, ach Gede, machte ihr putziglich den Hof, in der Öffentlichkeit sehr verschämt, insgeheim um so heftiger, und mit, durch oder auf und unter ihm, hatte sie auch abwechselnde sexuelle Erfahrungen, aus ihrer Sicht nicht einmal die Schlechtesten, die sie erkennen ließen, mehr als ein Neutrum zu sein.
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