Hans Wollschläger
Karl May
Grundriß eines gebrochenen Lebens
Kapitel I Ussulistan
Kapitel II Waldenburg und anderswo
Kapitel III Acta in Sachen des Rechtes ./. C.F.M.
Kapitel IV Aus der Mappe eines Vielgereisten
Kapitel V Schundmacher und Poet dazu
Kapitel VI »Im lieben, schönen Lößnitzgrund…«
Kapitel VII Le Bourgeois Gentilhomme
Kapitel VIII Ormasd und Ahriman
Kapitel IX »… die Gebilde einer unbekannten Atmosphäre…«
Kapitel X Am Tode
Kapitel XI ›Patronen‹ gegen ›Patrone‹
Kapitel XII Ein Schundverlag und seine Helfershelfer
Kapitel XIII The Dark and Bloody Grounds
Kapitel XIV »Autor frommer Bücher – ein Bandit«
Kapitel XV Ins Rosenrote
Anhang
Quellen und Nachweise Bibliographie
Register
Schon einer der Urahnen in der siebenten Vorgeneration, Andreas Stephan (1666–1719), war Webermeister in Ernstthal; Weber waren fast alle Vor- und Vorvoreltern; Weber war der Vater[1]. Von ihrem Dahinleben ist wenig aufbewahrt; selten währte es siebzig Jahre, oft sehr viel kürzer, und daß es köstlich gewesen wäre, ist so sicher nicht, wie es der plaudernde Feinsinn gern der pausenlosen Arbeit nachsagt; – ein paar trockene Sätze im Kirchenbuch, keine Briefe, keine Bilder. Zuletzt bleiben von ihnen allen nur die eckigen Daten ihres Auftritts und Abgangs von der tristen Bretterbühne, auf der das immer gleiche vor sich ging: Intraden ohne Glanz – die dürftige Dorfpantomime immer stummer Rollen, deren letzte Hantierung noch vom grau sausenden Webstuhl bestimmt ist – Exit ins Dunkel. Das Erbe, das aus solchen Generationen auf den Letzten der Familie sich ablagerte, wiegt schwer, und wenn er sich später auch empört dagegen verwahrte, daß man ihn atavistischer Schwachheiten [2] zeihe, so erklärt sich doch so manche Bruchstelle im wunderlichen Gewebe seines Lebens aus der trüben Provenienz der Fäden, die darin zusammenliefen: nicht nur die Revolution des Unteren, die in ihm heraufkam; das verkrüppelte Rechtsbild der vom Recht sehr lange Vergessenen; – auch der gestaute Kräfteschub derer, die selber nichts zu stiften vermochten, was geblieben wäre; und aus der Schwermut der Vergeblichen die singuläre Anstrengung selbst, die sie durchbrach und aufhob. So hat er das Muster, wie es, mit durchaus schlimmen Vorzeichnungen, auf ihn kam, dann doch zum guten Ende gebracht, und aus dem langen, öden Vorgang der von Tritten geregten, endlos ungesehen geflossenen Fäden, der von Schlägen geschlagenen Verbindungen, der herüber und hinüber schießenden Schifflein ist noch so etwas wie ein Weber-Meisterstück gekommen – ein bizarres, misch-maschiges, knotig bedeutendes aber doch im desolaten Dessin – und er selbst im besten Sinne der Letzte seines Stammes geworden: Ijar, der im ganzen Morgenlande bekannte Teppichweber … [3]
Ernstthal, eine kleine Stadt in der sächsischen Kreisdirektion Zwickau, 1680 nach einer Pestepidemie zu Hohenstein gegründet, mit dem es später (1898) zusammengelegt wurde, ist ein Modellpunkt des sozialen Elends der Zeit: in dessen tiefsten Stand, ins ärmste, schmutzigste Ardistan, wird Karl Friedrich May am 25.2.1842, abends um 10 Uhr, in der Niedergasse[4] hineingeboren: fünftes von 14 Kindern, die die Mutter Christiane Wilhelmine Weise (1817–1885) zwischen dem 19. und 43. Jahr dem Heinrich August May (1810–1888) gebären muß; neun davon sterben in frühester Kindheit, nur zwei Schwestern haben den Bruder überlebt und ein hohes Alter erreicht. Von den 2630 Einwohnern ernähren sich 80 % von der Heimweberei, die seit der Blütezeit zu Beginn des Jahrhunderts unaufhaltsam niedergegangen ist und zum Existenzminimum jetzt wenig über ein Drittel beiträgt; ›Nebenberufe‹ müssen aushelfen, Schmuggel und anderes; in Scharen verlassen Auswanderer die kümmerliche Heimat, hinüber ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten; die öffentlichen Einrichtungen, etwa das Schulwesen, sind durch Schulden in Unordnung; 84 Haushalte zählt 1845 eine Akte zu den Ärmsten der Armen.[5] Mangelkrankheiten bestimmen Leben und Sterben: das, was man gegenwärtig diskret als ›Unterernährung‹ zu bezeichnen pflegt , ist wohl auch Ursache für die Erblindung des Kindes kurz nach der Geburt; sie wird erst, lange von törichten Kuren verpfuscht, im 5. Lebensjahr durch Eingreifen Dresdener Ärzte behoben.[6] Bei schimmligen Brötchen, Unkrautsuppe und Kartoffelschalenabsud gedeiht nicht eben mehr als ein »Kellerkeim von Junge«[7], ein krankes, schwaches Kind, welches noch im Alter von sechs Jahren auf dem Boden rutschte, ohne stehen oder gar laufen zu können [8], gedeiht aber um so mehr das Verlangen nach dem Anderen, das hinter solcher Wirklichkeit wäre, nach der Besseren Welt, die mit Gedanken zu erreichen, in der mit Gedanken frei zu schalten sei: – ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt … Wann erstmals die Wachtraumbewegungen der jugendlichen Phantasie einsetzten (in dem mystisch verwischten Sinne, mit dem die Bildersequenzen namentlich der späten Fabeln sich auf sie berufen), ist nicht entscheidbar; sie mögen gleich aus der allerersten Kindheitsdämmerung herauf sich eingestellt haben, die Grenze überhaupt vertuschend (wie denn May die Grenze zeitlebens nicht präzise gekannt hat), – sie mögen gleichwohl später erst vom Einfluß der Märchengroßmutter geweckt und gelenkt worden sein, wenn auch wahrscheinlich weit allgemeiner, als May es dann aus der späten Rückbeschaulichkeit sah: im Bild der Großmutter Johanne Christiane Kretzschmar (1780–1865), dem lange mit Anstrengung sublimierten, sammelte er alle hellen Züge seiner Kindheit überhaupt – Züge, deren bloße Anzahl schon nicht überschätzt werden darf. Riesenhaft erdrückend bleibt die Misere gegenüber einer Handvoll tröstlicher Momente, die sichtbar, wohlig gefühlig empfindbar wohl überhaupt erst aus dem langen Abstand wurden. Ganz abgesehen davon, daß schon ein schieres Rindsgemüt dazu gehört, es mit Thomas Manns perfidem ›Glück im Ghetto‹ zu halten, das es da ›auch‹ gegeben habe, ist den in der Altersdistanz gebastelten Selbstbeschreibungen immer zu mißtrauen: ihren geschamig verschönenden Geständnissen einstiger Schicksalsgeschlagenheit wie ihren Erinnerungen allgemein, den stets manipulierten, ausgesiebten, rosa retuschierten: – falsch muß allein die Proportion schon werden. Was May, der von dem ihn dauernd hauteng umdrängenden Material her unschätzbare Dokumente hätte liefern können, bedeutend hätte geraten müssen, wäre sein Begriff vom Dokument nicht zeitlebens gering geblieben, wurde ihm vereitelt: den ›Verlornen Sohn‹, seinen sozialen Roman , verdarben ihm die albernen Klischees der Kolportage, und die Selbstbiographie, spätestes Niedergreifen auf den vergrabenen Hort frühester Erfahrung, wurde von ästhetischer Zensur verstellt (und von nur wieder viel zu vielen ego-bedingten und -gebundenen Zwecken): »In seinem Buche, da deutet er sehr viel vom Schmutz und Sumpfe seines Heimatortes Ernstthal an, und darüber hätte ich gern von ihm genaue Angaben gewünscht. Er versagte, weil ihm die Erinnerung daran wehe tat …«[9]
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