Mit fünf Jahren ist seine Kindheit zu Ende. Aber keine Jugend hat danach mehr Raum; die mit dem Schulbesuch (1848–1856) sichtbar werdende Lernbegabung verleitet den Vater zu nebulosen Zukunftsplänen, hinter deren wütendem Betreiben das Bewußtsein des eigenen Versagens zum Schweigen kommen soll: zum unsinnigsten Vielwissen wird der Junge genötigt. Alles bei Pfarrer und Rektor nur Greifbare muß schwarz auf weiß besessen werden; der konfuse Bildungsbegriff des Vaters verlangt förmlich kulihafte Demonstrationen: ganze Kompanien von alten Gebetbüchern, Rechenfibeln, antiquierten Naturgeschichten muß der Junge wahllos abschreiben. Die Reaktion mag schon damals unter der Schwelle sich eingestellt haben: durchsichtiger zumindest wird, warum sein Umgang mit dem Wissen (zu schweigen von ›den Wissenschaften‹) zeitlebens dilettantisch blieb und nie die Heftigkeit des Kennverlangens erreichte, die den eigentlichen Autodidakten bezeichnet. Gefördert wird auch die musikalische Begabung: Orgel-, Geigen- und Klavierspiel bringt der Kantor bei, dazu das Handwerkliche des Tonsatzes. Die Texte der alten Kirchengesänge machen lateinischen Unterricht wünschenswert; und als wieder einmal ein Auswandererzug die Elendsgegend verlassen will, um ›drüben‹ die bessere Zukunft aufzusuchen, stellt sich die Gelegenheit fürs Englische ein (das May freilich, wie die sämtlichen vierzig Sprachen, deren er sich später rühmte, nur in den Anfangsgründen beherrschte); Französisch kommt gleichzeitig (nur wenig besser fundiert) hinzu. Und was sich bei diesem Wust noch an freien Viertelstunden und Sonntagspausen hatte erübrigen lassen, fällt schließlich dem letzten, verderblichen Unfug zum Opfer, den der Vater sich einfallen läßt oder zumindest duldet: als für die Hohensteiner Schankwirtschaft Engelhardt ein Kegelaufsetzer gesucht wird, gerät der Junge, eben 12 Jahre alt, für ganze Tageteile in den Dunstkreis der dörflichen Biertischbürger, und wie er, von abgestandenen Resten geistiger Getränke animiert, labil und ahnungslos den um so weniger geistigen Tagestratsch in sich aufnimmt, so ist er auch ahnungslos dem zweiten Gift ausgeliefert, das ihn durchsetzt: der Hintertreppenbücherei der Kneipe, deren Schund ihm Rechts- und Wirklichkeitsgefühl verzerrt: wo die Not am höchsten, ist Rinaldo Rinaldini am nächsten: und so macht sich der Junge eines Tages auf, um ›in Spanien‹ bei einem der Edlen Räuber Hilfe zu holen … Für lange Jahre hat ihn so der Kitsch infiziert.
Die Rectoratsschule verläßt Karl May mit dem Zeugnis »Wissenschaften II; Sittliches Verhalten I«; das Elternhaus, die Vater-Stadt verläßt er so gut wie ohne jede innere Festigung. Töricht bliebe der bisweilen unternommene Versuch, die 14 bizarre Jahre lang genossene Erziehung zu bagatellisieren: was aus ihr erwächst, aus einer Serie banaler Unfälle, wird zu einem Monstrum von Fall – und konsequent noch in jedem gedunsenen Detail. Zu suchen, wenn auch nicht gleich heimzusuchen: wären die Sünden des Kindes bei und an den Vätern, und nicht nur bis ins dritte und vierte Glied …
Kapitel II
Waldenburg und anderswo
Die ganzen zwanzig Jahre Folgezeit, der zeitlupig zäh dauernde Sturz in den Maelstrom ›des Lebens‹, das den allzu unzulänglich präparierten Armen weidlich schuldig werden läßt, warten noch immer auf eine Spezialarbeit[1], die sie – und mit ihnen ein Bündel bloßer bunter Gerüchte – zuvorderst einmal schlicht faktisch aufzuklären hätte. Und wenn sie auch so kompliziert nicht sind, daß man dafür, wie May es später wollte, nun gleich nur die Fach-Psychiatrie anrufen müßte, so bleiben doch die zu ihrer Erklärung nötigen Wege verwickelt und weitläufig genug; im enger beschränkenden Rahmen dieser Darstellung würden sie einfach zu weit führen. Zwischen der wechselseitig geübten Beschönigung und schäumender Aufbauschung irgendeine milde Mitte zu suchen, wie es diesen und jenen Lesern (besonders jenen) wohlgefällig wäre, ist bloßer Verlust, und nicht nur von Zeit; – ein Datenreferat statt dessen, kurz, und trocken vertrackt, wäre vorzuziehen: facts on file. So unbedingt dramatisch hat sich gar nicht aufzuführen, was Furcht und Mitleid reichlich genug erwecken kann …
Zu Ostern 1856 (23.3.) wird May konfirmiert: »Halte an dem Vorbilde der heilsamen Worte, die du von mir gehört hast …«[2] lautet der Spruch, den man ihm ›auf den Weg‹ gibt; in dieser Gemeinde hat er Heilsames vergleichsweise nicht eben viel gehört. Der Berufswahl setzen sich nach wie vor die Grenzen der materiellen Not; zum offenbar erwünschten Medizinstudium reicht es nicht; so soll er Lehrer werden. Der Pfarrer erwirkt beim Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, eine jährliche Unterstützung von 15 Talern[3]: ein winziger Zuschuß zu dem, was die Familie erhungern muß. Im Seminar Waldenburg besteht May die Aufnahmeprüfung; zu Michaelis (29.9.) 1856 wird er dort als Proseminarist offiziell aufgenommen; und zu Michaelis 57 dann beginnt die Zeit, in der unter den üblich anderen auch die ersten schlimmen Lehren auf ihn warten. Daß er die Entfernung vom häuslichen Herde und der daneben hängenden väterlichen Zuchtrute als Befreiung sieht, kann auch die steife Anstaltsdisziplin nicht dämpfen; so ist er wohl gleich zu Anfang ein bißchen mehr Mensch, als er’s nach Meinung der hohen Direktion hier sein sollte: etwas zu rasch vollzieht sich das Erwachen der lange geduckten, voller Mucken steckenden kleinen Person: kein atemlos lauschender Wissensdürster sitzt zu Füßen der Katheder links vorn über ihm (was sie zu bieten haben, weiß er rasch und leicht zu begreifen), sondern »ein guter Durchschnittsrüpel«, wie es ein Kenner der Seminarakten zusammenfaßt.[4] Besonders ›glücklich‹ hat sich May während der Waldenburger Jahre wohl jedenfalls kaum befunden; und die Ferien verbringt er durchaus gern wieder in der Heimatstadt, dort freilich weniger in der elterlichen Marktwohnung als in der Herrenstraße 53[5], wo das Schwesternpaar Anna und Laura Preßler ihn stark beschäftigt, vorab die ihm gleichaltrige Anna, Meine 1. Liebe [6] (die allerdings, trotz der ihr innig zugesungenen Liebeslieder, 1858 die Ehe mit einem Schnittwarenkrämer der Romantik vorzieht). Die Anstalt ist dagegen ein um so öderer Aufenthalt, ein trostlos trockenes Vertriebsbureau lexikalisch gestapelten Wissens; die Darstellung der Selbstbiographie wird von den Dokumenten ausgiebig bestätigt: Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab … Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte … In meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen vermochte … Daß May dies damals bereits sicher erkannte und unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herumarbeitete, mich innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben , ist zweifelhaft; bloßer Instinkt scheint sich gegen die von engen Disziplinen vergitterte Um- und Unwelt gekehrt zu haben, besonders deren dressierte Christlichkeit, die selbstgerechte, starre, salbungsvolle und muckerische Schulmeisterreligiosität [7] (eben jene, die er selber in seinen Erfolgsjahren dann recht virtuos praktizierte): Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen mußte … Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt … Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke … Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-; Bibel- und Gesangbuchlehre … Und so weiter. Als May im April 59 einmal dem Nachmittagsgottesdienst fernbleibt, setzt es denn auch sogleich eine Verwarnung; überhaupt sei er von »schwachem religiösen Gefühl«[8], findet hernach die Anstaltsleitung: ein Nächster, der nur mit Vorbehalten zu lieben wäre: »arge Lügenhaftigkeit und rüdes Wesen«[9] sind ihm eigen: es fehlt am rechten Geiste, dem wohldressierten, in spanische Stiefel eingeschnürten: mit diesem Schüler kann es kein gutes Ende nehmen …
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