„Nein, setz dich, ich übernehme das!“ Ulrike stand auf. „Im Kühlschrank der Bar steht ein fruchtiger Weißer, auf den haben wir uns gestürzt. Magst du auch?“
Marlene nickte. Ihr war völlig egal, ob sie Wein oder Motorenöl trank. Victors Nähe ließ ihren Puls höherschlagen, ohne dass sie hätte sagen können, wieso eigentlich. Sie setzte sich.
„Wir haben schon gehört, dass Sie hier nicht im Hotel angestellt sind, sondern auch Ihren Urlaub verbringen. Wie lang vertreten Sie Ihre Schwester noch?“ Albert lächelte sie fragend an.
„Morgen Mittag müsste sie zurück sein.“ Marlene schaute Victor an. „Und Sie sind heute auf Mallorca angekommen?“
„Nein, wir sind bereits seit Sonntag auf der Insel. Wir waren in den Tramuntanabergen im Westen. Es ist wunderschön dort. Kennen Sie diese Gegend?“ Er wandte ihr sein Gesicht voll zu und während sie antwortete, betrachtete sie ihn genauer.
Sie hätte ihn nicht als gutaussehend bezeichnet. Sympathisch, ja. Aber auf der Straße wäre sie an ihm vorbeigegangen, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Doch seine blauen Augen, die jetzt im Dunkeln fast schwarz wirkten, zogen sie magisch an. Das schmale Gesicht mit der hohen Stirn wirkte ernst, so als trüge er die Last der halben Welt mit sich herum.
Ulrike stellte ein Glas vor Marlene hin und goss aus einer bauchigen, grünen Karaffe ein. „So, Süße, entspann dich und genieße!“
~~~
Zwei Stunden später dämmerte Marlene in einen wohligen Schlummerschlaf hinüber, den der Wecker am Donnerstagmorgen mit einem lauten „Di-di-di-did“ abrupt und viel zu früh unterbrach. In Shirt, Weste und Jogginghose kroch sie gähnend zum Strand hinunter; eine halbe Stunde am Meer würde ihr jetzt guttun.
So früh am Morgen war es noch empfindlich kühl. Sie zippte ihre Weste zu und stapfte bis vor an die Wasserkante. Die Wellen kräuselten sich und liefen im seichten Sand in flachen Rundbögen aus. Sie streckte einen Fuß hinein; es war richtig kalt. Die Hände in den Westentaschen vergraben, lief sie zunächst langsam, dann immer zügiger durch den feuchten Sand, das Gesicht dem frischen Wind zugewandt. Dunkle Wolken jagten am Himmel entlang, so als müssten sie einen imaginären Termin einhalten.
Ihre Gedanken kehrten zum vergangenen Abend zurück.
Er war ein einziger Genuss für die Sinne gewesen. Ein Windlicht in einem Keramikkerzenhalter mit gelben, braunen und orangefarbenen Mosaiksteinchen. Die Kerzenflamme, die sich in Victors dunklen Pupillen spiegelte wie die untergehende Sonne im Meer.
Der kühle Chablis, fruchtig auf der Zunge und leicht im Gaumen; die grünen Weinkelche mit den hohen Stielen, überhaucht von einer dünnen Eisschicht. Salami- und Schinkenscheiben mit Gemüsesticks und Knoblauchdip auf einer mit bunten Blumen bemalten Keramikplatte, die Marta ihnen gebracht hatte. Daneben ein Korb mit festem, würzigem Landbrot und ein rotbraunes Schälchen mit grünen und schwarzen Oliven.
Von irgendwoher die sanften Klänge einer Gitarre, die mal klagende, mal lebensfrohe Melodien in die Nacht schickte. Der frische Geruch von Lavendel, vermischt mit dem exotisch—süßen Aroma der Bougainvilleas.
Alberts Anekdoten, Ulrikes perlendes Lachen, Victors Stimme, samtig und kehlig, tief und melodiös. Und seine Hände – den Stil des Glases umfassend, beim Sprechen gestikulierend, kurz auf ihrem Arm, als er sie etwas fragte. Stark, klein, schlank, kurze schwarze Haare an der Kante des Handrückens; Vertrauen erweckend, warm, beschützend, so als könne man sich ihnen ohne Vorbehalt ausliefern.
Und immer wieder seine Augen: je nach Stimmung und Lichteinfall stahlgrau bis schwarz, dunkel- oder eisblau mit einem türkisfarbenen Ring um die Iris, wie die Farbe des seichten Wassers an der Strandbucht weiter vorne, wenn sie von der Sonne beschienen wurde.
Nach zwanzig Minuten kehrte sie um; sie wollte noch einen Moment im Sand sitzen und aufs Meer hinaussehen. Sie lief auf die größere Düne zu, hinter der der Steg in den Ort hineinführte, und stutzte. Saß dort etwa schon jemand? Sie ging zögerlich weiter, als eine Gestalt am Fuß der Düne sich erhob.
„Es hat dich wohl auch schon früh aus dem Bett getrieben?“ Victor.
Erleichtert ließ sie sich neben ihm nieder. „Ich bin zwar noch viel zu müde, um schon aus den Federn kriechen zu wollen, aber mein Dienst beginnt bald. Und ich liebe es nun einmal, am Strand entlangzulaufen. Die beste Zeit dafür ist morgens.“
Wie sie, sah er hinaus aufs Meer. „Ja, am Morgen, wenn alles still ist und keine lärmenden Menschen einen in den Alltagssog hineinziehen, mit den immer gleichen Problemen, Vorgängen und Sorgen, die uns in einen unruhigen Abend hineinkatapultieren, der einem ähnlichen Tag vorausgeht.“
Sie schaute ihn direkt an. „Das war das Echo meiner Gedanken. Dir geht es auch nicht so gut, oder?“
Er nickte. „Nicht wirklich, nein. Vielleicht nehme ich auch manches zu schwer. Aber dieses ständige Zeitfüllen und Terminen nachzujagen macht mich mürbe. Man rennt dem Leben und seinen Träumen, wenn man sie denn noch hat, hinterher, überfrachtet mit dem täglichen Einerlei und ist nicht fähig, aus diesem Teufelskreis zu entkommen.“
„So empfinde ich das auch meist.“
Er sah sie von der Seite her an. „Erinnerst du dich noch an deine Träume?“
Marlene schaute wehmütig vor sich hin. „Vor einem Jahr hätte ich dir geantwortet, dass ich kurzfristig eine gute Prüfung absolvieren und danach unterrichten wollte. Zumindest so lange, bis ich meinen Freund heiraten würde und Kinder bekäme. Weiter dachte und wünschte ich mir nichts. Naja, irgendwann einmal noch einige schöne Flecken dieser Welt erkunden, das auch.“ Sie malte geistesabwesend mit einem Stöckchen Kreise und Linien in den Sand. „Inzwischen bin ich Lehrerin und habe mich von meinem Freund getrennt, weil er mich betrogen hat. Seither stolpere ich durch die Tage und versuche, mich nicht unterkriegen zu lassen.“
Nachdenklich sah Victor sie an, dann nickte er. „Mein Alltag!“
~~~
Um die Mittagszeit kam eine strahlende, braungebrannte Petra hereingestürmt. „Hola, Bonita!“ Sie erzählte begeistert von dem Segeltörn, den Pablo und sie am Tag zuvor unternommen hatten, dem traumhaften Wetter und der herrlichen einsamen Bucht, in der sie einen Nachmittag allein verbracht hatten. Die beiden Schwestern steckten die Köpfe zusammen, klönten und lachten.
„Übrigens, im Februar heiraten wir!“ Auf Marlenes erstaunte Nachfrage erklärte sie den Grund für einen Hochzeitstermin im Winter. „Im Dezember kommen wir nach Speyer, im Januar müssen wir renovieren und im März beginnt bereits die nächste Saison. Also bleibt uns für Flitterwochen nur der Februar.“
„Das ist blöd, um diese Zeit hab ich keine Ferien“, maulte Marlene enttäuscht.
„Aber über Karneval hast du doch vier Tage am Stück, oder? Am Freitag sind wir auf dem Standesamt, am Samstag ist die kirchliche Trauung und danach wird gefeiert!“ Sie sah auf ihre Uhr. „Bonita, mach, dass du wegkommst und genieß deine Restferien!“
~~~
Die beiden Frauen und die Franzosen hatten am Abend zuvor beschlossen, diesen Nachmittag gemeinsam in Palma zu verbringen. Sie parkten den Mietwagen in der Garage unterhalb des Parc de la Mer, direkt unter der Kathedrale. Dann bummelten sie an der Uferpromenade auf La Seu zu.
„Seht mal da vorne: ein Performancekünstler!“ Ulrike wies auf eine Gestalt auf einer umgedrehten Kiste. Auf dem Vorplatz der Kathedrale stand er, ganz in Silber gekleidet, selbst Gesicht und Hände waren silbern bemalt. Sie blieben eine Weile vor ihm stehen und beobachteten ihn.
Wie eine Statue stand er da, er zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Er schaute in Richtung Hafen, eine Hand beschirmte seine Augen, so als suche er etwas am Horizont.
Читать дальше