Ein kleines Mädchen kam hergerannt und starrte ihn mit offenem Mund an. Unvermittelt neigte er sich zu ihr hinunter und strich ihr lächelnd über die Wange. Als er seine Hand zurückzog, hielt sie einen bunten Lutscher. Er gab ihn ihr und nahm dann wieder seine Position ein. Die Kleine starrte perplex auf das Zuckerwerk in ihrer Hand und dann wieder auf ihn.
Victor lächelte vergnügt, dann sah er zu Marlene. Auch auf ihren Zügen lag ein Schmunzeln. Ihre Blicke trafen sich und während die Zeit für eine Sekunde stehenblieb, sah er Marlene mit einem kleinen Mädchen an ihrer Hand. Beide lächelten ihn glücklich an.
Dann war der Moment vorbei und vor ihm stand wieder die Frau, die er tags zuvor kennengelernt hatte und die seitdem nicht mehr aus seinen Gedanken weichen wollte. In einer für ihn untypisch spontanen Geste streckte er ihr seine Hand hin und gemeinsam liefen sie zu Albert und Ulrike, die bereits zum Südportal der Kathedrale weitergegangen waren.
Sie streckten die Hälse nach oben, als ihre Blicke an den mächtigen Strebepfeilern hinaufwanderten. Dann schlenderten sie um die Kathedrale herum und betraten sie vom Nordportal her.
Marlene war schon zweimal hier gewesen und doch stockte ihr jetzt wieder der Atem, als sie das mächtige Kirchenschiff betrat. La Seu galt zu Recht als eine der größten und schönsten gotischen Kirchen Europas.
Sie ging langsam das Hauptschiff entlang auf den Hochaltar zu. Die Fensterrose darüber zog sie magisch an. Wenn die Sonne schien, so wie jetzt, wirkte das Rundfenster, als stünde es in Flammen, und die roten, grünen und goldenen Motive leuchteten besonders intensiv. Bei ihrer ersten Führung hatte sie erfahren, dass dieses Fenster aus dem vierzehnten Jahrhundert einen Durchmesser von über zwölf Metern hatte.
„Es ist das größte gotische Kirchenfenster der Welt“, flüsterte Victor neben ihr.
„Es ist wunderschön.“
Marlene wollte diesen Anblick länger genießen. Sie setzte sich auf eine der vorderen Holzbänke und ließ Blick und Gedanken schweifen. Vom Rundfenster über den Baldachin von Gaudí und den Altar über die schlanken Steinpfeiler zu den Seitenschiffen, wo das Mädchen von zuvor an der Hand ihres Vaters entlanghüpfte.
Wo wohl ihre Mutter war? Marlene dachte an ihre Eltern zu Hause, die in ihrem üblichen Alltagstrott gefangen waren, während sie in der lichtdurchfluteten Kathedrale im herbstwarmen Süden saß. Sie empfand ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, dass sie eine enge Bindung zu beiden hatte; dass sie mit ihnen immer über alles reden konnte, wenn sie wollte, und dass sie sich blind auf sie verlassen konnte.
Wie selbstverständlich stand Tom vor ihrem inneren Auge. Auch ihn hatte sie für einen Menschen gehalten, dem sie vertrauen konnte. Sie hatte sich in ihm getäuscht. Die bittere Gewissheit trieb ihr Tränen in die Augen, und plötzlich war die heitere Gelassenheit, die sie zuvor empfunden hatte, wie weggeblasen. Es tat immer noch weh, an ihn und die verlorene, gemeinsame Zukunft zu denken.
Eine bleierne Trauer senkte sich auf ihre Schultern und drückte sie auf die harte Kirchenbank. Mit zugeschnürter Kehle saß sie da und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich dennoch unaufhaltsam ihren Weg nach draußen bahnten; aus ihrem Herzen, ihrer Seele, ihrem verletzten Stolz, dort, wo die Verwundung am tiefsten saß, strömte die bittere Trauer aus ihr heraus.
Nach einer Weile trocknete sie ihr Gesicht und sah sich nach den anderen um. Victor saß einige Reihen hinter ihr am Rand zu einem der Seitenschiffe hin. Auch er sah so aus, als habe etwas ihn tief berührt. Sein Gesichtsausdruck war traurig und er wirkte, als sei er in Gedanken meilenweit weg.
Marlene ging langsam zum Ausgang, wo Ulrike und Albert schon warteten.
Vorbei am Rathaus und Santa Eulalia, einer Kirche mit Mariensäule auf dem Doppelportal, schlenderten die vier zur Plaza Mayor, wo sie sich unter einer der zahlreichen Arkaden in einem Straßencafé niederließen. Bei Café Solo und Cortado beobachteten sie müßig Mallorquiner und Touristen, die vorbeihetzten und –bummelten, auf der Suche nach freien Plätzen in einem der Cafés.
Marlenes tiefe Traurigkeit war einer leisen Wehmut gewichen, an der sie längst nicht mehr so schwer trug wie an ihrem Liebeskummer, den sie monatelang unter ihrer unbekümmerten Fassade in sich herumgetragen hatte. Sie fühlte sich seltsam befreit.
Albert brach das Schweigen. „Normalerweise hab ich’s nicht so mit Kirchen, aber La Seu hat mich beeindruckt.“
Ulrike nickte. „Mich auch. Die alten Mallorquiner haben da ein wunderschönes Monument geschaffen. Ich glaube nicht, dass die Architekten heutzutage etwas so Erhabenes bauen könnten.“
„Obwohl sie über ausgereiftere technische Mittel verfügen als die Menschen damals“, fügte Albert an.
Marlene trank von ihrem Espresso und steckte sich eine Gauloise an. „Ich finde La Seu auch jedes Mal wieder bezaubernd, obwohl ich eigentlich solch große Kirchenbauten nicht so gerne mag. Mich zieht es eher in Kapellen und kleine Dorfkirchen; dort ist die Atmosphäre irgendwie reiner.“
„Dann solltest du dir unbedingt die kleine Kapelle südlich von Inca ansehen. Wie heißt sie noch gleich?“ Albert zog die Stirn kraus. „Sant Irgendwas. Ich habe sie vor Jahren durch Zufall entdeckt, als ich mich verfahren habe. Sie gehört zu einem Gutshof. Die Decke ist übersät mit hunderten von Muscheln. Ich fand das kitschig, aber es soll Menschen geben, die so etwas mögen.“ Sein amüsierter Blick wanderte zu Victor, der die Augenbrauen hochzog.
„Ich, zum Beispiel.“
„Ich auch!“, stimmte Marlene zu.
„Nee, oder?“ Ulrike verdrehte theatralisch die Augen. „Ihr wollt da aber nicht auch noch hin? Ich hab heute genug Kultur gesehen. Mir ist jetzt allmählich nach einem leckeren Abendessen zumute!“
Marlene sah sie belustigt an. „Klingt gut, aber wir könnten doch Morgen zu dieser Kapelle fahren. Petra oder Pablo kennen sie bestimmt.“
Albert und Ulrike sahen alles andere als glücklich aus und so wurde die Planung für den folgenden Tag erst einmal verschoben. Da ihnen der Sinn nach frischem Meeresgetier stand, aßen sie auf dem Rückweg in einem urigen Fischrestaurant in Colònia de Sant Jordi, in dem Marlene schon öfter war, gegrillten Fisch, Hummer und Krabben und spülten alles mit einem spritzigen mallorquinischen Weißen hinunter.
Sie waren eine fröhliche Runde und Marlene beobachtete, dass Albert und Ulrike immer heftiger miteinander flirteten. Sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob die beiden den Abend mit diesem gemeinsamen Essen beschließen würden und dachte, wie gut, dass Ulrike und ich getrennte Zimmer haben.
Schließlich landeten sie noch im Hotelgarten, wo Pablo und Petra sich zu ihnen gesellten und von ihrem Kurztrip an der Westküste schwärmten. Irgendwann flüsterte Ulrike Marlene ins Ohr: „Ich glaube, wir sollten den morgigen Tag getrennt verbringen. Abends treffen wir uns zu einem Abschiedsessen wieder hier. Okay?“ Sie zwinkerte Marlene spitzbübisch zu.
Sie grinste. „Schon verstanden. Viel Spaß euch beiden!“
Bald darauf brachen Albert und Ulrike zusammen auf. Er legte den Arm um ihre Hüften und sagte leise etwas, woraufhin sie keck lachte.
Marlene sah den beiden nach und dachte, ich gönne es ihr, aber ich könnte nicht einfach so mit einem Mann, den ich erst seit kurzem kenne und attraktiv finde, in die Kiste steigen, ohne daran zu denken, ob oder wie es weitergeht. Für mich macht Sex ohne Liebe keinen Sinn. Seufzend trank sie von ihrem Wein und erhaschte dabei Victors Blick. Er schien ähnlichen Gedanken nachzuhängen wie sie.
Auf Marlenes Nachfrage, ob Pablo die kleine Kapelle kenne, nickte er. „Sí, sí, das ist Sant Josep! Sie ist sehr romantisch und in schöner Landschaft gelegen. Ich zeige sie euch morgen auf der Karte.“
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