Sie fuhren nach Inca und schwelgten in Lederträumen. Nachdem sie zwei große Geschäfte durchstöbert hatten, verwarf Marlene die gewagte pinkfarbene Handtasche und entschied sich für eine in schwarzem Leder. Nach einem Früchteeisbecher fuhren sie schließlich nach Jornets, einem alten Gutshof, zu dem die Kapelle Sant Josep gehörte.
Als habe das Gespräch mittags Victor von einer Last befreit, war er fröhlich und seine gute Laune sprang auf Marlene über. Sie fühlte sich so unbeschwert und glücklich wie schon seit Monaten nicht mehr.
Erwartungsvoll näherten sie sich der Kapelle. Das Portal der schlichten Sandsteinfassade wurde von zwei Säulen eingerahmt. Im kühlen Inneren des kleinen Gotteshauses standen drei kurze Bankreihen zwischen halbrunden Bögen. Die Wände waren geweißt und über der Apsis erstreckte sich tatsächlich eine Decke, die über und über mit Muscheln bedeckt war. Das Bild eines Schutzheiligen, wahrscheinlich Sant Josep, hing darunter.
Marlene starrte zur Decke empor. Sie musste zugeben, dass sie in der Tat etwas kitschig und überladen wirkte. Dennoch gefielen ihr die Muscheln, denn für sie waren sie Symbol für das Meer, das sie liebte, und für das Leben schlechthin. Wie in einer Muschel gab es im Leben, wenn man viel Glück hatte, auch manchmal eine verborgene Perle zu entdecken.
Victor stand still neben ihr, den Blick auch nach oben gerichtet. „Es wirkt“, flüsterte er nach einer Weile mit belegter Stimme, „als hätten alle Liebenden, die hierherkamen, als Zeichen ihrer Liebe ihre Herzen als Muscheln da oben verewigt. Dort, wo der Himmel über ihre Muscheln und somit über ihre Liebe wachen kann …“
Marlene lief eine Gänsehaut über den Rücken. Die Vorstellung war rührend. Die Nachmittagssonne, die durch das Seitenfenster fiel, schien sie und Victor in einen Kokon aus Licht und Liebe zu hüllen.
Ohne bewusste Willensentscheidung drehte sie ihm ihr Gesicht zu. Er nahm es sanft in beide Hände und legte seine Lippen auf ihre. Und ihre Seelenfäden nahmen zaghaft, aber schicksalsbestimmt miteinander Verbindung auf. Dann lösten sie sich voneinander und verließen, nach einem letzten Blick zur Decke, schweigend und Hand in Hand die Kapelle.
Marlene war sich später nicht mehr sicher, ob sie sich den Kuss nur eingebildet hatte. Sie war wie in einer Trance gefangen, aus der sie erst erwachte, als ein kläffender Hund in einem nahegelegenen Garten sie in die Wirklichkeit zurückholte.
Sie fuhren nach La Ràpita zurück, wo sie sich an der Rezeption trennten. Später wollten sie sich auf der Terrasse mit den anderen treffen. Marlene unterhielt sich noch mit Petra, wobei sie die persönlichen Details der letzten Stunden für sich behielt. Spontan beschloss sie, vor dem Duschen noch einen kleinen Strandspaziergang zu machen. Sie war innerlich seltsam aufgewühlt und fühlte sich Victor nach dem gemeinsam verbrachten Tag sehr nahe. Sie hoffte, dass die klare Seeluft Ruhe in ihr inneres Chaos bringen würde.
Die Sandalen in einer Hand lief sie im seichten Wasser, das am frühen Abend schon recht kühl war. Der plötzlich aufkommende Wind zerrte an ihren Haaren. Sie senkte den Kopf und suchte konzentriert den nassen Sand ab. Als sie eine unversehrte halbe Muschel fand, wurde ihr erst bewusst, dass sie danach gesucht hatte. Aber es war eben nur eine Hälfte der Muschel, die zweite fehlte. Und die anderen, die sie fand, waren alle am Rand beschädigt.
Victor schien die gleiche Idee gehabt zu haben. Er kam ihr winkend entgegen. Sein Gesicht überzog eine leichte Bräune, seine nachtblauen Augen strahlten, und Marlene schien es, als sehe sie ihn zum ersten Mal: ein schmales sympathisches Gesicht voller Wärme und Herzlichkeit, das ihr seltsam vertraut schien. Sie blieben lächelnd voreinander stehen.
„Ich dachte, ich würde eine schöne Muschel finden, so wie die in der Kapelle. Aber ich hatte kein Glück.“ Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.
Victor nahm ihre Hand und legte etwas hinein. „So wie diese hier?“
Marlene starrte auf ihre Handfläche: Eine halb geöffnete Muschel lag darin. Sie war beige mit dunkelbraunen Streifen und fast rund, die beiden Hälften bauchig und völlig unversehrt.
„Woher hast du die? Sie ist wunderschön!“
Victor zeigte schräg hinter sich. „Da vorne bei den Dünen, wo wir uns gestern Morgen getroffen haben, lag sie.“
„Diese Muschel ist vollkommen!“ Marlene fuhr mit dem Zeigefinger sanft über die weiche Oberfläche, die tausende von Sandkörnern und Wellen glattgespült hatten.
„Sie ist für dich, als Erinnerung.“ Er sah sie ernst an.
Marlene schüttelte den Kopf. „Nein, nein, behalt du sie, du hast sie gefunden.“
Seine blauen Augen sahen in ihre, dann zog er sie an sich und ihre Köpfe neigten sich einander zu. Ihre Lippen verschmolzen miteinander. Er legte seine Arme um sie und zog sie noch fester an sich. Marlene fühlte sich geborgen in dieser Umarmung, so beschützt, als könne nichts und niemand ihr je wieder etwas anhaben.
Nach einer Ewigkeit und einem Flügelschlag der Zeit lösten sie sich voneinander. „Die eine Hälfte für dich“, flüsterte Victor.
„Und die andere für dich“, murmelte Marlene.
Er nahm die Muschel und bog sie behutsam auseinander. Mit einem sanften Plopp trennten sich die beiden Hälften genau in der Mitte, so als habe die Muschel ihr Leben lang genau auf diesen Augenblick gewartet.
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Bevor sie duschte, leerte Marlene den blauen Samtbeutel, in dem das bisschen Schmuck war, den sie mitgebracht hatte. Dann wickelte sie ihre Muschelhälfte vorsichtig in ein Papiertaschentuch und ließ es in den Beutel gleiten.
Als sie unter der Dusche stand, traf sie eine plötzliche Nüchternheit. Lag es an dem kalten Wasserstrahl oder daran, dass diese Tätigkeit eine tägliche Verrichtung war? Sie fragte sich mit einem Mal, ob sie bescheuert war, sich so kindisch-verliebt zu benehmen. Und sie erwischte sich bei dem Gedanken, ob sie vielleicht diese letzte Nacht auf Mallorca mit Victor gemeinsam verbringen sollte. Sie hatte einfach ihren Verstand ausgeschaltet und sich fallengelassen.
Aber wohin sollte diese Gefühlsduselei führen? Sie hatte sich nicht ernsthaft verliebt. Oder etwa doch? Wenn ja, würde sie dieses Gefühl schnell aus ihrem Herzen verbannen müssen. Eine Liebe zu diesem Mann war von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Er, ein Franzose aus Südfrankreich, der zu seinem Bruder und dem gemeinsamen Weingut zurückkehrte, -kehren musste, weil er ihn verständlicherweise unterstützen wollte. Und sie lebte in Deutschland, wo ihre berufliche Zukunft gerade erst begonnen hatte und wo ihre Eltern waren.
Hatte sie den Mut, all das aufzugeben und nach Avignon zu Victor zu ziehen? Nein, gestand sie sich ein. Dieses Wagnis war ihr zu groß, sie kannten sich ja kaum.
Wie also sollte ihre Beziehung aussehen? Die Entfernung war einfach zu groß. In den Ferien würde sie zu ihm kommen, vielleicht würden sie sich auch ab und zu hier auf Mallorca treffen, wenn er Urlaub hatte. Und in den langen Wochen und Monaten dazwischen telefonieren und mailen.
Sie trocknete sich ab, zog sich an und begann zu packen. So stellte sie sich eine Partnerschaft nicht vor. Sie wollte einen Mann an ihrer Seite, der immer da war. Mit dem sie morgens aufwachte und abends einschlief, einen, der den ganz normalen Alltag mit ihr teilte. Sie wollte keine Urlaubsbekanntschaft, der sie mehr Bedeutung beimaß, als ihr zustand. Wahrscheinlich war sie nach der Enttäuschung mit Tom so frustriert, dass sie sich auf den erstbesten Mann stürzte, der ungebunden war.
Als sie ins Bad ging, um sich zu schminken, wanderte ihr Blick zu dem Samtbeutel auf der Kommode. Sie glaubte, die Muschel förmlich zu spüren. Rasch wandte sie sich ab. Sentimentaler Blödsinn! Noch ein paar Stunden, dann war Victor Vergangenheit.
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