„Weshalb hat dieser Adam uns nicht ausgeliefert? Oder schlimmer noch. Warum hat diese Amber uns das mit deinen Namen abgenommen?“
Ich zog die Decke, die mich umschlang, noch enger.
„Ich weiß nicht. Ich kann es mir nicht erklären, Kiefer!“
„Und weshalb hat uns niemand nach unserer neumodischen Kleidung gefragt?“
Ich überlegte kurz. Durch eine undichte Stelle im Dach konnte ich einen Teil des Sternenhimmels erkennen. Es würde also wieder abkühlen wie letzte Nacht und dieses Mal lag niemand neben mir.
„Nun, Lori hatte die ganze Zeit eine der Decken um sich geschlungen, das einzige, was sie hätte verraten können, hat sie rechtzeitig verschwinden lassen.“
Ich machte eine kurze Pause.
„Deine und meine Kleidung fällt weniger auf. Was weiß ich, was die Menschen momentan in Boston tragen?“
“Wenn sie diese Nacht fieberfrei übersteht, haben wir es dann geschafft?“
Allem Anschein nach war er mit seinen Gedanken zu Lori zurückgekehrt. Sein schneller Themenwechsel verriet seine Unsicherheit.
„Sie wird kein Fieber bekommen!“
Heu rieb aneinander. Bei dem Geräusch kratzte ich mich unwillkürlich im Gesicht. Nach kurzer Zeit vernahm ich seine ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge und beneidete ihn um seinen Schlaf. Dies würde mit Sicherheit die zweite Nacht werden, in der ich kaum ein Auge zu tun würde.
Hatte sie Fieber? Es kam ihr so vor. Sie war heiß, ihre Haut fühlte sich klebrig und nass an. Es war ein Alptraum, der sie nicht loslassen wollte. Sie hockte im Schrank und es war still und dunkel. Trotzdem drangen schmale Lichtstrahlen durch die Lamellenschlitze zu ihr ins Innere, die ihr wie gleißende Blitze in die Augen stachen, und sie nahmen die hellen Bilder der Schlitze mit, wenn sie sie schloss. Es dauerte immer eine Weile, bis sie ihren Augenhintergrund wieder einigermaßen neutralisiert hatte und deshalb hielt sie sie krampfhaft geschlossen.
Sie schluchzte. Immer wieder holten sie die Szenen ein, die sich abgespielt hatten, und sie schämte sich und wusste nicht, weshalb. Noch nicht.
Würde sie es jemals schaffen, diese Bilder, diese Leinwand tief in ihren Augen wegzudenken? Zu verdrängen? Zu löschen?
Oder würden ihre Augen sie verraten? Ihren gesamten gespeicherten Inhalt spiegeln, wenn sie jemanden ansehen würde? Waren sie der Spiegel der Offenbarung? War es am Ende doch besser, sie für immer zu schließen?
Die Stille wurde plötzlich unterbrochen. Jemand betrat das Zimmer und sie hielt instinktiv die Luft an. Schritte an der Schranktür, aber niemand sprach etwas.
Zögerlich öffnete sie die Augen und wurde sogleich wieder geblendet. Dieses Mal war es jedoch nicht das Tageslicht, welches sie fixierte. Es war heller, extremer, wie der Strahl einer Taschenlampe und als sie ihren Kopf den offenen Schlitzen entgegen wandte, stellte sie fest, dass jemand das Licht in ihrem Zimmer eingeschaltet hatte.
„Bist du hier drin?“ Sie flüsterte. Ihre Schwester flüsterte. Sie selbst versuchte auszumachen, ob es ein Flüstern des Zornes oder des Mitleids war. Ob sie aufgebracht, verärgert oder liebevoll beschützend klang. Die Gabe, dies in all den Jahren aus einer Stimme herauszufiltern, war ihr zur zweiten Natur geworden. Die Gefühlslagen eines Menschen abzuschätzen, darin hatte sie unfreiwillig Meister werden müssen und sonst konnte sie nicht viel. Zumindest war ihr nie das Gegenteil bewiesen worden.
Ein leises Klopfen an der Schranktüre ließ ihr Herz beschleunigen, dann vernahm sie wieder die bekannte Stimme.
„Bist du hier drin? Darf, darf ich zu dir hereinkommen?“
In den Schrank? Wie sollte sie hier auch noch herein passen? Schließlich waren sie keine Kinder mehr. Sie schweifte in diese Zeit zurück, obwohl sie eigentlich noch als Kind galt. Es gab keine unbedarften Tage mehr in diesem Haus, in welchen sie sorgenlos gelebt hatten. Jetzt nicht mehr.
Aber ihre Gedanken schweiften zu weit ab. Jetzt war jetzt und es war grauenhaft. Elaine war ihr offensichtlich nachgelaufen, also musste sie es mitbekommen haben. Nicht auszudenken! Röte schoss ihr ins Gesicht, aber hier in ihrem Versteck würde es niemand bemerken. Sie hörte, wie ihre Schwester versuchte, den Schrank zu öffnen. Scharrende Geräusche, dann der Klick am unteren Schrankende. Sie kannte den Trick dafür und plötzlich konnte und wollte sie sich nicht mehr verstecken. Wie ein Blitz schoss sie ihr entgegen und fiel ihr zu Füßen.
„Elaine!“
Plötzlich schrie sie den Namen ihrer Schwester. Ihre Stimme überschlug sich, als könne sie auf diese Weise all ihren Kummer loswerden. Heißes Fieber hatte ihren gesamten Kopf eingenommen und sie fühlte sich schlecht. Jetzt zog sie den Rest ihres schmalen, gebeutelten Körpers aus ihrem Versteck im Schrank. Obwohl es ihr überall Schmerzen bereitete, hatte sie sich an die Unterschenkel ihrer Schwester geklammert. Seltsamerweise tat ihr der Hals schrecklich weh. Nein, er schmerzte fürchterlich, so als habe sie glühende Kohlen verschluckt. In ihrem verwirrten Zustand fragte sie sich, warum sie der Hals derart peinigte, wo doch ihr ganzer Körper nach der Aktion von vorhin eigentlich in Mitleidenschaft gezogen war. Es riss wie Feuer und begann hinter den Ohren bis hin zur Brust, tief herunter und raubte ihr immer wieder die Luft zum Atmen. Sie roch nach verbranntem Fleisch. Ja, so kam es ihr vor, aber da war kein Feuer gewesen. Da waren nur harte Schläge, die ihren Körper zum Erzittern gebracht hatten. Schäumende Wut, der sie hilflos ausgesetzt gewesen war und die sie verzweifelt versucht hatte, abzuwehren. Und eine Scham, wo sie nicht mit umzugehen wusste.
Ängstlich riss sie die Augen auf und sah Elaine vor sich stehen. Vielmehr betrachtete sie ihre hellbraunen Unterschenkel, die mit einem jeansblauen Minirock bedeckt waren. Überall auf Elaines Haut konnte man regenbogenfarbene Flecken erkennen, die, wie sie mit Entsetzen bemerkte, auch eine unterschiedliche Konsistenz besaßen.
Einige waren hart und fast knotig, andere wiederum waren weich und schwabbelig, aber trotz der Flecken war sie einfach nur wunderschön. Sie wusste, dass der ganze Restkörper Elaines ähnlich aussah, unter der Kleidung verborgen, dort, wo sie niemand sehen konnte. Er war schlau, er schlug sie immer nur so, dass die verräterischen Flecken, die entstehen würden, im Verborgenen blieben, und er hasste es, wenn sie dann einen Minirock trug. War er deshalb so ausgerastet? War es Elaines Kleiderwahl an diesem Morgen gewesen? Und dass sie somit seine Wut auf sie nach außen verdeutlichte?
Sie fragte sich Sekunden später, ob ihre eigenen geprellten Stellen von eben auch mit der Zeit weich wurden, nachdem sie erst anschwollen und knotig hart waren.
„Lass mich los, du tust mir weh“, rief Elaine plötzlich, griff nach ihr und streifte ihren Hals.
Wieder schrie sie. Es schmerzte sie zu sehr.
„Hat … hat er mich am Hals gewürgt, Elaine? Mein Hals. Er brennt so fürchterlich!“
Sie hielt ihrer Schwester die so verwundbare Körperfläche entgegen.
Augenblicklich spürte sie eine sanfte Hand an der beschriebenen Stelle. Woher Elaine den kalten, nassen Lappen so plötzlich hatte, wusste sie nicht, aber die spontane Kühlung tat gut.
„Nein, du hast nichts am Hals, aber ich rate dir, nicht denselben Fehler wie ich zu machen, und einen Rock anzuziehen!“
Also war es wirklich nur der Minirock ihrer Schwester gewesen? Sie fror unwillkürlich, obwohl sie eine unbeschreibliche Hitze in sich empfand.
„Zieh nie einen Rock an, hörst du? Gib ihm nie die Gelegenheit, mehr von dir zu sehen, als eben nötig!“
Die bittere Erfahrung, die sie eben hatte machen müssen, ließ sie wissen, wovon ihre Schwester nun sprach. Sie spürte die Aufregung Elaines und sie spürte auch, dass sie noch etwas sagen wollte, deshalb ließ sie ihr Zeit. Dann, Minuten später, brach es aus der Kehle ihrer Schwester heraus.
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