„Adam, können Sie mich hören?“
Ich strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und packte in ein feuchtes Gerinnsel. Es war warm und klebte in Sekundenschnelle an meiner Hand. Nach genauerer Untersuchung fand ich die Quelle des blutenden Ursprungs, eine lange Platzwunde hinter dem linken Ohr. Er rührte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich, der mir die Panik genommen hätte, ihn lebensgefährlich verletzt zu haben. Dann vernahm ich plötzlich den wohl vertrauten Klang eines schnippenden Feuerzeugs und eine kleine Flamme half mir bei einer genaueren Untersuchung. Ich sah kurz Adams Gesicht, welches wachsbleich in meinem Schoß lag.
“Kiefer, du musst mir helfen. Wir können ihn hier nicht liegen lassen. Ich ...“
Er unterbrach mich.
“Woher sollte ich wissen, dass Sie ihm bekannt sind?“
„Du hast ja Recht. Wir alle haben Recht. Alle Beteiligten waren mehr als misstrauisch, aber das hilft uns nun auch nicht weiter. Wo ist Lori?“
Ich versuchte die Verzweiflung, die erneut in mir aufgelodert war, zu unterdrücken. Wenn Adam durch uns, die wir eigentlich gar nicht hier sein dürften, sterben sollte, würde ich mir das nie verzeihen können!
Kiefer erklärte mir in kurzen Sätzen, dass Lori ganz in der Nähe in einem verlassenen Scheunengebäude war, den sie als Unterschlupf gefunden hatten. Wir sprachen nicht über andere Ereignisse, die gewesen waren, dazu war ich nicht in der Lage. Es war auch meiner Meinung nach unwichtig. Meine Informationssammlung, die ich herausbekommen hatte, konnte ich genauso gut auch später erzählen. Viel schlimmer war es, einem unschuldigen Menschen durch eine Dummheit eventuell das Leben genommen zu haben, ganz neben der Tatsache, dass wir einen Mord am Halse hätten haben können und das in einer Zeit wie dieser!
Wir wickelten Adam gekonnt in meine mitgebrachten Decken ein und trugen ihn zu zweit durch die Nacht. Ich hoffte inständig, dass es nicht mehr weit bis zur Hütte war, denn ich war am Limit meiner Kräfte angelangt. Adams Körper war doppelt so schwer in bewusstlosem Zustand, als es normal der Fall gewesen wäre. Immer wieder betete ich, dass er durchhalten würde, während mir der Schweiß in Strömen den Rücken herunterlief.
Endlich am Ziel angelangt, stieß Kiefer mit einem heftigen Tritt die Türe auf, so dass Lori ein erschrecktes Schluchzen entfuhr. Sie hatte wohl kaum mit einer solchen Ankunft gerechnet.
„Kiefer, du ... ich ... ich hasse dich, wieso hast du mich allein gelassen?!“
Als sie sah, wen er mit in seiner Begleitung hatte, veränderte sich ihre Stimme.
„Miss Clerence, Gott sei Dank, Sie leben!“ Eine Last schien augenblicklich von ihr abzufallen. Sie war schnellstens bemüht, uns bei unserer mitgebrachten Last behilflich zu sein.
Wir legten Adam auf ein provisorisches Strohlager. Natürlich gab es auch hier keinen elektrischen Strom, es blieb uns also nichts anderes übrig, als uns weiterhin mit der Dunkelheit abzufinden!
„Kiefer, ich habe Brot und Schinken für euch. Es liegt an der Unfallstelle, würdest ...“
Er ließ mich nicht aussprechen, da der Gedanke an Nahrung wohl so verlockend war, dass er auch zehn Meilen für einen Bissen Brot zurückgelaufen wäre.
„Natürlich, ich bin gleich wieder da. Schließt die Türe hinter mir.“
Lori ging ihm bis dorthin nach, dann wandte sie sich um.
„Was ist geschehen? Wer ist dieser Mann?“
Ich erklärte ihr in kurzen Sätzen mein Erlebtes in dem weiß getünchten Haus unweit von hier. Ich kauerte neben Adam auf dem Boden und machte regelmäßige Pulskontrolle. Ab und zu entfuhr ihm ein unterdrücktes Stöhnen, was mein Gewissen auch nicht ruhiger werden ließ. Außerdem zuckte er manchmal, gelegentlich wurde er von einem Schütteln erfasst. Sorgsam deckte ich Adam zu, in der Hoffnung ihm wenigstens Wärme geben zu können. Ich war froh, als Kiefer wenig später mit meiner Beute endlich zurückkehrte. Ich hörte die Schmatzgeräusche in der Dunkelheit neben mir. Sicher würden sie gleich, wenn der Magen ein wenig gefüllt war, bereit für die Wahrheit sein?
Als hätte Lori meine Gedanken gelesen, sprach sie mich direkt darauf an.
„Haben Sie irgendetwas herausbekommen können? Ich meine ...“ Sie zögerte leicht.
„Ich weiß, was du meinst und hör endlich mit dem blöden „Sie“ auf!“. Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, da ich noch von mir selbst wusste, wie ich auf all das reagiert hatte.
„1872, es ist der zehnte Mai 1872!“
Ich konnte nur erahnen, was meine Worte in ihnen auslösen mussten, aber schließlich war auch ich nicht davon verschont geblieben!
„Mein Gott!“ Kiefers Stimme klang fremd in der Dunkelheit.
„Wie ... wie haben Sie, wie hast du das angestellt, ohne damit aufzufallen?“
„Ich habe eine Amnesie vorgetäuscht, ich hielt es für das Beste!“
„140 Jahre, das ... das ist unglaublich. Wir sitzen ganz schön im Schlamassel!“
Stroh knisterte vorwurfsvoll unter Kiefers Gewicht. Ich sah seine Umrisse und konnte durch das hereindringende Mondlicht erkennen, dass er mit dem Kopf schüttelte.
„Ob nun 140 oder 240, es ändert nichts an unserer Situation. Gebt mir Zeit, ich hatte Geschichte Leistung. Bis Morgen habe ich die wichtigsten Geschehnisse im Kopf, das könnte uns vermutlich bei unserem Verhalten weiterhelfen.“
Lori sprach unverhofft und sie schien sich besser mit dieser Situation auseinander zu setzen als Kiefer und ich es taten. Sie machte kurz Pause.
„Ich weiß, dass Boston um 1630 durch englische Emigranten gegründet worden ist, aber es hingen natürlich auch noch indianische Ureinwohner mit drin und was sagtest du? Wir leben 1872? Das erinnert mich an eine Geschichte, die ebenso Boston betrifft, weil genau in diesem Jahr fast die ganze Stadt durch einen Brand zerstört worden ist. Das heißt, ich habe den Monat vergessen, vielleicht geschieht dies auch erst noch? Infolge dessen werden dann die Tee-, Rum-, Fisch- und Tabakpreise steigen oder eine Welle von Auswanderern wird die umliegenden Kleinstädte fluten– Kiefer, wir haben nur die zwei Decken. Darf ich zu dir hinüberkommen?“
Ich war davon überzeugt, dass Kiefers Mund genauso offenstand wie mein eigener, nachdem wir Loris Monolog vernommen hatten. Sie schien tatsächlich ihren Leistungsschwerpunkt in Geschichte zu haben. Allem Anschein nach hatte sie auch ihre Angst nun fest im Griff; wenn ich an unsere „Landung“ hier zurückdachte.
„Natürlich, so muss niemand von uns frieren.“
Kiefers tonlose Stimme drang unterdrückt beeindruckt bis zu mir herüber.
Das bedeutete für mich, diese Nacht mit Adam unter der anderen Decke zu verbringen und ich hatte ein mulmiges Gefühl dabei.
Als Lori zu ihm hinübergekrochen war, durchbrach Kiefers Stimme erneut die Stille um uns herum.
„Wie geht es deinem Patienten, Miss Clerence?“
Vermutlich wollte er bewusst vom Thema ablenken, weil er immer noch zu beschämt von Loris Wissen war.
Ich musste ein Lächeln über seine gewählten Worte und den raschen Themawechsel unterdrücken.
„Ich habe den Eindruck, dass er in einen ruhigen Schlaf gefallen ist. Seine Atemzüge sind regelmäßig und ich schätze, dass ich meine Hand heute Nacht von seinem Halspuls nicht so schnell ablassen werde.“
Abermals knisterte Stroh.
„Und Kiefer, man gab mir hier den Namen Rose. Es war Adams Vorschlag! Ich meine, der meines Patienten hier.“
Ich konnte mir sein schmunzelndes Gesicht vorstellen, obwohl uns immer noch Nacht umfing. Natürlich war an Schlaf nicht zu denken, zumindest von meiner Seite aus nicht. Ich war viel zu besorgt um Adam, den ich Gott sei Dank warm an mir spürte. Ich glaube, ich atmete im gleichen Rhythmus wie er, wahrscheinlich der festen Überzeugung, ihm damit helfen zu können, dass er es nicht urplötzlich vergaß. Ich tastete unzählige Male nach der Halsschlagader und mit dem Geruch erkalteten Blutes dicht an meiner Nase schlief ich dann doch ein. Gott sei Dank war mein kurzes Einnicken von keinen Alpträumen begleitet, obwohl ich wie gerädert nach Stunden wiedererwachte. Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wo ich war und wen der Mann unter meiner Decke darstellte. Traurigkeit beschlich mich, da ich gehofft hatte, wieder in einer anderen Zeit wach zu werden.
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