1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 „Wir haben dir eine Küchenhilfe mitgebracht, Amber! Sie scheint auf den Kopf gefallen zu sein. Sie macht einen eher dummen Eindruck auf mich. Sie ist hinter uns her gestolpert, als sei sie betrunken und sprechen kann sie auch nicht richtig. Ihr fehlt jede Erinnerung!“
Ich traute meinen Ohren kaum. Es kostete mich einiges an unterdrücktem Eitel, um nicht hochzugehen wie eine Rakete. Er lachte laut in meine Richtung, so dass ich abermals Einblick in seinen grauenhaften Mund hatte. So wie er unsere erste Begegnung beschrieb, konnte ich wohl froh sein, dass er mich nicht hatte in Ketten legen lassen.
Die Frau, die sich Amber nannte, sah freundlich in meine Richtung.
„Ihr seht in der Tat schlecht aus. Wo kommt Ihr denn bloß her? Ich hoffe, man hat Euch nichts angetan?“
Sie musterte mich besorgt und strich mir freundlich über das Haar. Anscheinend ahnte sie, dass ich ihr eine Antwort schuldig bleibe würde, deshalb sprach sie weiter:
„Macht Euch nichts aus dem dummen Gerede meines Bruders. Man muss ihn erst besser kennen lernen, um festzustellen, dass er eine gute Seele hat!“
Sicherlich hatte sie Recht, aber es stand mir nicht zu, ihr beizubringen, dass ich nicht das geringste Interesse hatte, ihrem gut gemeinten Vorschlag nachzukommen. Ich nickte ihr verstohlen freundlich zu, weil ich nichts zu erwidern wusste. Sie hatte ähnlich schwarzes Haar wie auch der Jüngere, namens Adam. Die bunte Schürze, die ihren dünnen Leib umschlang, bildete einen interessanten Farbkontrast zu ihrem schlichten Kleid. Sie war braungebrannt und für ihr Alter sehr attraktiv.
„Diana, Betty, kümmert euch bitte zuerst um die Hühner im Stall! Na, gesund sehen die nicht gerade aus, aber das bekommen wir schon hin!“
Sie sprach die beiden Mädchen an, die mit auf dem Weg gewesen waren. Mir machte sie dann Zeichen, ihr ins Innere des Hauses zu folgen. Ich ging ihr nach und die saubere Einfachheit in der Küche beeindruckte mich sehr. Ich hielt Ausschau nach Wandkalendern oder Schriftblättern, die mir etwas über diese Zeit verrieten. Meine Hoffnung wurde schnell erstickt, Zeitung gab es wohl schon, aber man hatte sie offensichtlich zum Zünden zweckentfremdet. Es waren nur noch verkohlte hauchdünne zittrige Fetzen im Kamin zu erkennen und ich nahm nicht an, dass hier täglich ein Zeitungsbote den Hof aufsuchte. Mein Mut sank. Ob ich jemals an ein Datum würde herankommen können? Amber machte sich an einem Herd zu schaffen, der sicherlich seine hundert Jahre zu meiner Zeit auf dem Buckel haben würde, um dem herunter gebrannten Feuer ordentlich Zunder nachzugeben. Die Mahlzeit dort dampfte noch ein wenig und kleine Nebelschwaden stiegen aus dem Topf auf.
Ich sah ihr bei dieser Verrichtung zu und hoffte, dass das Feuer mich schnell wärmte. Ich fror immer noch erbärmlich und machte diese außergewöhnliche Situation dafür verantwortlich. Amber schien dies zu bemerken.
„Ich bringe Euch gleich noch eine Decke, am besten wird es sein, wenn Ihr hier vor dem Feuer lagert, um die Füße warm zu bekommen.“
Ich war ihr unendlich dankbar für ihr Verständnis und so kam ich ihrer Aufforderung gerne nach. Ihr Kopftuch war streng nach hinten gebunden, und die Haarmassen, die darunter verborgen waren, zeichneten sich widerspenstig ab.
„Könnt Ihr Euch wirklich an nichts mehr erinnern,Kind? Auch nicht an Euren Namen?“
Röte schoss mir ins Gesicht, die sie, wie ich hoffte, hier in der halbdunklen Küche nicht bemerken würde.
„Ich schätze nicht “, verlegen räusperte ich mich.
Die schwere Holztüre wurde geöffnet und Adam trat herein. Er schleppte einen der vielen mitgebrachten Säcke auf dem Rücken. In Sekundenschnelle rechnete ich an dem Gewicht seiner Last, welches ihm überhaupt nichts auszumachen schien. Sicherlich gehörte das Schleppen von solchen Säcken zu seiner täglichen Arbeit.
„Stell ihn in die Kammer, aber bitte nicht wieder auf die Wollreste, sonst könnt ihr alle demnächst auf eure Kleidung verzichten!“
Ich beobachtete, wie er in einem Nebenraum der Küche verschwand. Ein dumpfes Krachen verriet, dass er den Sack abgeladen hatte.
„Also, wie sollen wir Euch in Zukunft nennen?! Schon eine Idee?“
Ambers plötzliche Frage erinnerte mich nicht nur an meine entsetzliche Gegenwart, sondern auch an die Tatsache, dass man hier wohl mit einem längeren Aufenthalt meinerseits rechnete.
„Würde Euch Rose gefallen?“
Die Stimme kam aus der Kammer nebenan. Verblüfft sah ich in ihre Richtung, als plötzlich Adam wieder auftauchte.
Er sah mich herausfordernd an. Der schwere Jutesack hatte doch Spuren in Form von Schweißperlen bei ihm hinterlassen.
„Gebührt mir ein solcher Name denn?“ Ich hörte zwar meine eigenen Worte, konnte jedoch nicht fassen, dass sie aus meinem Munde kamen. Hatte ich nichts Besseres zu tun, als zu flirten?
„Ich denke schon!“
Unsere Blicke kreuzten sich unverwandt. Ich musste zugeben, dass er sehr attraktiv war. Ich war davon überzeugt, dass er sich um zukünftige Ehefrauen keine Gedanken machen musste, wenn er nicht sogar schon eine hatte?
„Rose? - Das ist gut, es passt zu ihr, du hast Recht, Adam!“
Sichtlich zufrieden rührte sie in der Suppe, die inzwischen brodelte. Der Geruch, den sie verströmte, löste großes Verlangen nach Nahrung in mir aus. Am liebsten hätte ich ihr den gesamten Topf mit Inhalt von der Feuerstelle gerissen, ohne zu fragen, ob es sich um Schlangensuppe oder ausgekochte Schweinefüße handelte. Ich schluckte das Wasser, welches mir unablässig im Munde zusammenlief, hart herunter und konnte kaum noch an meinen Verstand appellieren.
Amber klirrte mit Geschirr, was bedeutete, dass gleich serviert würde, und ich war froh, diesem Psychoterror der Hungersnot nicht länger ausgesetzt sein zu müssen.
„Na dann, Rose“, bitten wir die anderen zu Tisch!“
Adam lächelte verschmitzt in meine Richtung und machte sich auf den Weg nach draußen. Es dauerte nicht lange, bis alle um den Tisch versammelt waren. Es war klar, dass ich heute bei dieser Mahlzeit den Mittelpunkt bildete und so war es nicht verwunderlich, dass alle mir beim Essen zusahen. Ich störte mich nicht daran, weil mein Hungergefühl einfach zu groß war. Als meine Nahrungsaufnahme schließlich beendet war, bekamen auch so die anderen die Gelegenheit, ihre inzwischen erkaltete Suppe zu sich zu nehmen. Betty bot mir Brot an, welches ich schließlich auch noch vertilgte, und ich dachte mit Schuldgefühlen an Lori und Kiefer zurück, die wahrscheinlich inzwischen zu Grasessern geworden sein mussten.
Plötzlich hatte ich eine Idee. Wenn ich angeblich unter einer vorübergehenden Amnesie litt, war es vermutlich nur normal, wenn mir auch mein Zeitgedächtnis entfallen war. Niemand würde Verdacht schöpfen können und wenn ich mich mit meiner Sprache und Grammatik zusammenriss, würde ich als eine von ihnen gelten!
Ich räusperte mich leise, was natürlich sofort alle Aufmerksamkeit wieder auf mich zog.
„Es ist mir unangenehm, darüber zu sprechen, aber ich weiß nicht mal mehr, welches Datum wir schreiben.“ Ich wusste, dass ich aufgrund meiner Lüge errötete, aber es war mir egal. Sie kannten schließlich ja nicht den wahren Grund meiner Frage und Amber reagierte als Erste.
“Der zehnte Mai, Rose. Wir schreiben den zehnten Mai!“
Ich nickte verständig und versuchte dennoch meine Ungeduld zu unterdrücken. Dass es Mai war, entzückte mich ja, aber etwas anderes war mir wichtiger!
„Und ... und das Jahr?“
Murray lies abrupt seinen Löffel fallen.
„Das Jahr des Herrn habt Ihr auch vergessen?“
Wieder nickte ich, mein Herz raste, als er endlich antwortete.
„Wir schreiben das Jahr des Herrn, 1872. Guter Gott, Ihr müsst einen entsetzlichen Schlag abbekommen haben!“
Der Krug, der mit Wein gefüllt war, drohte mir aus den Händen zu gleiten, und wenn Adam ihn nicht reaktionsschnell im Fall gehalten hätte, wäre er in Hunderte von Scherben zerbrochen. Ich hatte mit vielem gerechnet, nicht aber mit einem solchen Zeitsprung. Es lagen genau 140 Jahre zwischen ihrem und meinem Leben und dennoch konnten wir hier an einem Tisch sitzen. Gleisende Blitze machten ihre Runden in meinem Kopf, in meinen Ohren begann es zu rauschen. Mein Zustand kam selbst mir besorgniserregend vor, da ich den Boden unter den Füßen zu verlieren spürte. Übelkeit stieg in mir auf. Ich hatte Mühe, das eben Gegessene zurückzuhalten. Meine Hand war krampfhaft gegen meinen Mund gepresst, die Augen brannten in den Höhlen. Ich starrte in die Runde und begegnete jedem einzelnen bohrenden Blick. Nie im Leben hatte ich mich so allein gelassen gefühlt.
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