Das ist kein öffentliches Gelände, hörte sie laut jemanden neben sich sagen. Schon die Rufe zuvor hatten wahrscheinlich Anna gegolten.
Anna sah eine kleine ältere Frau an, die sich drohend neben ihr postierte. Ihr Gesicht kam Anna bekannt vor. Sie hätte sogar einen Namen nennen können.
Was suchen Sie hier, fragte die Frau.
Nichts, sagte Anna, zuckte mit den Schultern und verließ unter den wachsamen Augen der Frau den Hof, der seit Jahren kein Schulhof mehr war. Das Gebäude wurde wieder von den Brüdern genutzt, war nun der Schwesternhof.
Über den Eingang von der Straße her gelangte sie in das Haus. Rechts lag ein kleiner Saal, weiß gestrichen wie alle brüderischen Innenräume. An einer langen Tafel hatten sich offensichtlich Direktionsangestellte vom Davidshof zusammengefunden. Alleinstehende Männer und Frauen, die nicht zu Hause kochen wollten. Sie schwatzten und lachten halblaut, während sie auf die bedienende Schwester warteten. Anna grüßte kaum merklich und setzte sich an einen der kleinen Tische. Sie sah hinüber zu einer Familie. Die beiden Kinder saßen im vorgeschriebenen Abstand von der Tischkante, hielten sich sehr gerade, aßen schweigend, mit Appetit, aber nicht hastig. Wahrscheinlich auswärtige Geschwister, dachte Anna. Auch Annas Familie war bei ihrem ersten Gottshut-Ferienaufenthalt jeden Mittag in den Schwesternhof essen gegangen.
Anna mochte das stille Einvernehmen zwischen den Gästen, die Geschäftigkeit der bedienenden Schwester, die gerade das Schiebefenster hochschob und in den Saal schaute. Sie stellte die Teller auf die Durchreiche, erschien wenig später selbst und lief, eine weiße Schürze über ihrem Sommerkleid, zwischen Durchreiche und Tafel hin und her, bedeutete Anna, sie möge sich noch gedulden, räumte Geschirr beiseite, deckte neu ein. Weitere Gäste kamen. Aus der Küche hörte man das Herumschieben von Töpfen, Klappern von Deckeln und Geschirr und das Zischen, als das Hackfleisch in die Pfanne gegeben wurde. So hatten die Gäste noch teil an den letzten Vorbereitungen für die Mahlzeit.
Eine Woche lang würde sich Anna in derselben Tischgesellschaft befinden, die sie ohne sichtbare Neugier aufnahm, und auch ihr späteres Verschwinden würde sie kaum registrieren.
Anna hatte die Villen nach dem Schwesternhof nie beachtet, die letzten auf der kurzen Straße, ehe die Allee zum Dörfchen Herthelsdorf begann. Aufmerksam wurde sie erst, als die Mutter sie eines Tages erwähnte. Die Missionshäuser , sagte sie und erklärte, dass Missionare sie erbaut hatten, um in Gottshut ihren Lebensabend beschließen zu können. Eine der Villen allerdings hatte immer Annas Interesse erregt. Die der Belgern-Sternebecks. Auch bei ihrem Nachmittagsspaziergang in das unterhalb des Schwesternhofes gelegene Tal blieb sie vor dem kastenförmigen Bau stehen. Die Fassade war recht prachtvoll mit ihren mehrfarbigen Ziegeln, einer Ornamentkante über den Bogenfenstern, Absätzen, Säulchen, dem geschwungenen Gitterwerk am Balkon. Als Kind hatte Anna die Villa nicht leiden mögen, weil sie so anders war als die Gottshuter Häuser sonst. Ihre Bewohner hatten es Anna angetan. Judith von Belgern-Sternebeck, die in Annas Klasse ging und so eine schöne Schrift hatte. Bei dem Ferienaufenthalt in Gottshut hatten die von Belgerns Annas Familie eingeladen, und so lernte Anna auch Judiths jüngere Schwester Susanna kennen. Während Annas Schwestern in dem von Belgernschen Garten mit Judith und Susanna spielten, hatte Anna das Schwesternpaar beobachtet. Sie wunderte sich, wie groß und schwer sie waren, wie langsam sie sich bewegten, zusätzlich behindert durch eine altmodische und zu warme Kleidung und die Last der zu Kronen aufgesteckten, sehr dicken, dunkelblonden Zöpfe. Bleich waren sie, dickhäutig und der Blick ihrer beinahe ausdruckslosen wasserfarbenen schrägstehenden Augen fesselte Anna. Sie, die mit ihrer Familie abgeschlossen innerhalb eines Dorfes auf einem großen Pfarrgrundstück lebte, hatte schnell die Ähnlichkeit ihrer Situation mit der des Schwesternpaares erkannt. Auch diese Mädchen verbrachten die meiste Zeit im Garten, einem urwaldmäßigen, paradiesischen Gefängnis, das mit seinem Strauchwerk undurchdringliche Tiefen bot. Seine Tannen und die Blutbuche gaben dem Garten eine große Höhe. In ihm verbarg sich das Schwesternpaar vor den spöttischen Augen der Gottshuter. Denn selbst für Gottshut war die Weltfremdheit der Mädchen außergewöhnlich. Eine alte Hausdame, die die von Belgerns bei ihrer Flucht aus dem Baltikum mitgebracht hatten, führte das Regiment. Tante Leonie nannte sie nie anders als den Zerberus. Anna hatte den Zerberus kennengelernt und war gut mit ihm ausgekommen bei späteren Besuchen. Doch was wusste sie schon von stiller Tyrannei. Ohnehin waren die von Belgerns von sehr sanfter Natur und verführten dazu, über sie zu regieren. Doch hatten sie trotz ihrer Arglosigkeit Würde. Es war nicht von Belang, dass Bruder von Belgern, statt wie seine Vorfahren eigene Ländereien zu verwalten, eine untergeordnete Arbeit im Davidshof verrichtete, dass die Familie nur noch als Mieter in dem Haus wohnte, das einmal 'ihr Besitz war, dass sie nun auch den Garten abgegeben hatten.
Anna hatte die Eltern von Belgern nie anders als heiter gesehen. Er: selbstvergessen, als sei er ständig mit erfreulichen Gedanken beschäftigt, und die Anstrengung, die hinter dieser Gelassenheit steckte, ahnte wohl niemand. Sie: lebhaft wie viele Gottshuterinnen. Beide von zierlicher Statur, sodass das elefantenhafte Wachstum der Töchter um so mehr erstaunte. Sie waren aus einer alten Familie. Doch als sie Anna einmal ihren Stammbaum zeigten, da schien ihr, sie taten es nur, um auf den Schnittpunkt hinzuweisen, wo sich seine und ihre Linie trafen. Ihre Verwandtschaft sollte, so verstand Anna, den Beweis für ihr tiefes Füreinander-bestimmt-sein liefern.
Auf sie trifft das Wort Demut zu, dachte Anna. Demut? Wie mir die alten Begriffe noch geläufig sind. Es tut nichts, dass ich nicht an Gott glaube, ich lebe noch mit Begriffen, Werten aus der Welt, aus der ich gekommen bin. Meine ewige Inkonsequenz. Ich kann keine Brücken abbrechen. Wenn sie hinter mir von selbst morsch werden, zusammenfallen, ist es was anderes.
Sie sind bescheiden, korrigierte sich Anna. Hintergrundpersonen. Sie machen nichts von sich her, obwohl sie es könnten. Sie sind durch Natur und Erziehung als Gottshuter begabt, wie die Gründer sie einmal wollten: jeder des anderen Bruder, des anderen Schwester, jeder versieht Dienst in der Gemeinschaft nach seinen Gaben, seinen Fähigkeiten entsprechend. Sie wären imstande, mit aller Hingabe Arbeiter im Weinberg des Herrn zu sein, sogar dem Rigorismus der Bruder- und Schwesternschaft gewachsen, der jemanden wie mich abschreckt.
Anna glaubte, dass Bruder von Belgern aus dem Haus käme. Der Blick seiner hellen Augen wie durch einen Schleier. Er war so leicht, dass Anna ihn kaum spürte. Unnatürlich schmal, auf ein ebenmäßiges Profil zugearbeitet das Gesicht. Die Haltung kontrolliert wie die eines Militärs. Es schien, er sei in all den Jahren um keinen Tag älter geworden. Seine Familie hatte ihn vielleicht anders im Gedächtnis. Es gab ihn nicht mehr, den stillen Baron.
Anna ging durch eine Gasse am Grundstück entlang hinab ins Tal.
In der Nacht stand Anna in einem großen, sehr dunklen Zimmer. Schwere Vorhänge hingen seitlich zusammengebunden über den Fenstern. Draußen war es finsterer noch als drinnen. Nur vom Kopfende eines riesigen, auf einem hölzernen Podest befindlichen Himmelbetts kam schwaches Licht. Anna ahnte, sie war im Sterbezimmer der alten Dame Buddenbrook. Aber in dem Bett würde wohl Tante Leonie liegen. Langsam ging sie auf das Podest zu. Der Lichtschein wurde stärker. Schon sah Anna das zerwühlte Lager.
Nein, nicht du! schrie Anna. Du nicht.
Читать дальше