„Vielleicht nehm‘ ich mir noch ein Stück Gebäck und trinke einen letzten Schluck Tee.“ Er schob sie umstandslos von seinem Schoß, an seiner statt in den Sessel, und schloss aufstehend seine Hose.
„Ihr …“
Ungeduldig blickte Alek sie an. „Ja?“
Sie schüttelte nur den Kopf, vermied jede Reaktion; weinen und sich die Haare raufen konnte sie später noch. „Nichts.“
* * *
Die Rückkehr von Reik und Réa nach Samala Elis, oder genauer: die Ankunft des Winterkönigs und seiner Begleiterin in der Hauptstadt, denn es kehrte nicht der vom Alten Berg zurück, der aufgebrochen war, glich einem Triumphzug.
Es war kalt, schneite jedoch nicht und die Sonne strahlte vom tiefblauen Himmel. Fröhliche, begeisterte Menschen säumten rufend die mit farbigen Wimpeln und den roten Bannern des Hauses Domallen – und auch einigen weißgoldenen des Hauses Sadurnim – geschmückten Straßen. Immer wieder erklangen Hochrufe, brandete lauter Jubel auf, Gruppen von halbwüchsigen Jungen stimmten ein ums andere Mal das Lied der Garde an.
Mara sang nicht mit. Sie stand auch nicht in der ersten Reihe, direkt an der breiten Straße vom Nordtor in die Stadt hinein, sondern gemeinsam mit Jula und Ron ein wenig im Hintergrund. Dort, wo der Weg durch das Nordviertel zum Tempel hin abzweigte.
Davian war mit einer Reihe anderer Hauptleute und Gardisten bereits mitten in der Nacht aufgebrochen, um dem Winterkönig entgegen zu reiten. Ihn und seine Begleiterin angemessen zu empfangen und in die Stadt zu geleiten. Er hätte sie vielleicht mitgenommen – angeboten hatte er es ihr allerdings nicht –, doch es erschien ihr nicht richtig. Unpassend, sie war nicht diejenige, die den Winterkönig, obwohl Reik das offiziell erst nach der Zeremonie im Tempel war, sehnsüchtig und mit bangem Herzen erwartete.
Sie würde in vier Tagen Davian heiraten. Mara lächelte versonnen und drückte unwillkürlich Julas Hand. Nicht aus Nervosität, doch vielleicht vor Aufregung, sie spürte das Nahen des Winterkönigs, fast wie ein drohendes Gewitter. Mara musste die zwei nicht sehen, sie wusste, ihm und Réa ging es gut. Aber sie wollte miterleben, wie die Menschen die beiden begrüßten, ihre Freude, ihre Begeisterung; Mara wollte sie sehen: Die triumphale Ankunft des Winterkönigs und seiner Begleiterin.
Denn viel zu bald ...
Doch daran wollte Mara jetzt wirklich nicht denken und drückte einmal mehr Julas Hand, der sich ihr lachend zuwandte, als der Lärm anschwoll, tosender Jubel erschall. Offenbar hatte der Zug das Tor passiert. „Kannst du überhaupt was sehen?“
„Viele Köpfe, aber ich muss gar nicht …“ Es war viel zu laut für Erklärungen. „Es geht, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle.“
„Wir könnten dich …“ schlug Jula vor.
„Bloß nicht! Ich verbiete es euch.“ Wenn Ron und Jula sie auf die Schultern nähmen. Sie wollte bestimmt nicht auffallen, wollte lediglich Teil der jubelnden Menge sein.
Allerdings machte Reik selbst dann Maras Bestreben zunichte, als er sein Pferd zügelte, absprang und auf sie zu schritt. Die Leute machten ihm bereitwillig … nein, ehrfürchtig Platz. Viele knieten nieder, verbeugten sich wenigstens oder grüßten förmlich, wie Ron und Jula.
Reik griff nach Maras Händen, zog sie an seine Lippen und sah ihr lange in die Augen. „Ich danke dir, Kleines. Was auch immer du getan hast, ich möchte dir dafür danken.“
„Ich habe doch nichts ...“ Götter, er sollte sie nicht anfassen, er sollte sie nicht auf diese Weise ansehen , dass ihre Knie ganz zittrig wurden. Mara sah die Wildheit des Jägers in seinen Augen, dessen Gier in seinem Blick aufblitzen, einen Moment nur. „Es war mir ein Anliegen.“
„Sehe ich dich heute Abend?“, fragte er nach.
„Wahrscheinlich, Hauptmann Remassey hat mich eingeladen.“
„Und vermutlich wirst du nicht vor mir niederknien.“
„Das wäre … nicht angemessen“, erklärte sie spröde.
„Nein, wäre es nicht.“ Er lächelte wehmütig und küsste sie sanft auf die Wange. „Ich werde dich immer lieben.“
Mara wusste, niemand hatte seine leisen Worte gehört, und war fast erleichtert, als Reik ihre Hände losließ, knapp den Kopf neigte. „Gènaija.“
Mit gerunzelter Stirn sah sie ihm nach, wie er wieder aufs Pferd stieg, gelassen etwas zu Réa sagte, die stumm nickte und ihn anstrahlte.
Bemerkte Davians ungeduldigen Blick. „Ob du ein Stück mit willst, habe ich gefragt?“
„Ja.“
Davian zog Mara vor sich aufs Pferd, legte den Arm um ihre Taille. „Die beiden sehen ziemlich mitgenommen aus.“
Blutverkrustete Schürfwunden und blaue Flecken, doch alles nur oberflächliche Verletzungen, wie Mara zu wissen glaubte. „Das scheint sie aber nicht sonderlich zu stören. Der Ritt war nicht einfach“, gab sie zu bedenken.
„Nein. Er hat sich verändert.“
„Er ist der Winterkönig.“
Und das würde Maras Beziehung zu ihm nicht erleichtern.
* * *
Ein langer Zug jubelnder Menschen folgte ihnen durch den Nordteil der Stadt, den Hügel zum Tempel hinauf, und Reik genoss es, genoss das Geschrei, die Rufe, die begeisterten, lachenden, ihn Willkommen heißenden Gesichter.
Auf dem Tempelvorplatz nahm ihnen eine Tempelwächterin die Pferde ab. Er stieg mit Réa die wenigen Stufen zum Tempel hinauf, durch das gewaltige Portal. Vier Wächterinnen stießen wortlos die riesigen inneren Türen auf, und sie schritten den endlos langen Weg zum Altarstein hin ab, knieten gemeinsam nieder. Warteten stumm im Halbdunkel, die Köpfe gesenkt, der Lärm der Menge draußen jetzt gedämpfter.
Irritiert fragte er sich, warum der Boden nicht … und verzog den Mund zu einem vagen Lächeln, Gènaija war nicht anwesend, sie war diejenige, die den Boden beben ließ. Aber das war sein Moment, flüchtig streifte er Réas Arm, just als Lorana … die Hohe Frau aus der Ecke hinter dem Altar hervortrat, hinter ihr weitere Priesterinnen, ihnen auffordernd zunickte.
Vor der Tür zu Loranas Arbeitszimmer standen Hauptmann Ladru und vier bewaffnete Gardisten. Offenbar war sein Vater, der König, anwesend; Reik straffte die Schultern, grüßte knapp.
Seine Majestät erhob sich eilig bei ihrem Eintreten und trat sichtlich erleichtert, ja voller Freude auf ihn zu und schloss ihn herzlich in seine Arme. „Mein Junge!“
So offen zeigte sein Vater seine Gefühle selten, Reik war überrascht, erwiderte die Umarmung aber nach kurzem Zögern. Der König hatte die Hände auf Reiks Schultern gelegt und musterte ihn eindringlich. „Du bist verletzt.“ Drehte den Kopf und betrachtete auch Réa aufmerksam. „Ihr seid beide verletzt.“
„Nicht ernstlich, Vater.“
Lorana forderte sie auf, Platz zu nehmen, wandte sich dann ihm zu. „Hattet Ihr irgendwelche Schwierigkeiten auf der Suche, königliche Hoheit?“
„Schwierigkeiten sind dazu da, bewältigt zu werden. Wir sind zurückgekehrt, Hohe Frau.“
„Nun, das ist offensichtlich.“ Sie schien ein Schmunzeln zu unterdrücken. „Réa, dürfte ich Euch noch einmal bitten, der Tee … nebenan.“
„Natürlich, Hohe Frau.“ Réa kam rasch zurück und reichte ihm mit scheuem Lächeln die Tasse. „Den müsst Ihr trinken, königliche Hoheit.“
„Hoffentlich nicht ebenso scheußlich schmeckend wie der letzte, den Ihr mir angeboten habt?“ Reik trank. Er hatte mal, wie wahrscheinlich viele andere auch, aus bloßer Neugier ‚flüssiges Gold‘ probiert und musste jetzt feststellen: die Wirkung dieses Getränks … Rauschmittels war um ein Vielfaches stärker.
Ungeduldig nickte Lorana ihm zu. „Fangt an.“
Einen Moment lang schwieg er, den Kopf gesenkt, und bemühte sich, die heftigen, allzu deutlich auf ihn einprasselnden Sinneseindrücke zu dämpfen. Den sehr angenehmen, bekannten Duft von Réa, ihre Wärme, noch immer verlockend. Lorana, keine junge Frau, ihr Geruch jedoch faszinierend … Sein Vater, längst nicht mehr jung und doch ein Konkurrent. Rivale?
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