Mara verneinte und Davian hielt Sakar ein Blatt Papier vor die Nase. „Schon mal gesehen?“
Eilig übersetzte Mara Davians Frage. Der Mann zuckte die Achseln, runzelte dann die Stirn. „ Darf ich mir das … diese Zeichnung genauer anschauen? “, fragte er, bevor er zu dem Blatt griff und es eingehend studierte. „ Das kommt mir in der Tat bekannt vor, allerdings … Wart Ihr schon mal auf den Inseln, Hauptmann? “
Doch Davian winkte ab, ging nicht auf die Frage ein.
„ Auch gut … Die Zeichnungen, wirklich gut gemacht, könnten den Tempel in Débar darstellen. Besonders diese Inschrift am Altar spricht dafür. Der Haupttempel des Jägers auf den Inseln “, fügte Sakar erklärend hinzu. „ Was mich allerdings stört: vor rund zwanzig Jahren sah es dort exakt so aus. Heute nicht mehr. “ Er musterte Mara grimmig. „ Übersetz das deinem Hauptmann, Kind. Wörtlich. “
Verwundert schüttelte Mara den Kopf. „ Was ist falsch? “
„ Nicht falsch, bloß veraltet. Er versteht mich ziemlich gut, oder nicht? Die Lampen vor allem. Wie kommt er an eine Zeichnung … und die scheint mir recht neu zu sein, des alten Innenraums des Tempels? “
„Gute Frage“, Davians Grinsen war nicht gerade freundlich. Er wandte sich an Mara. „Komm mit. Dein neuer Bekannter hat übrigens ähnlich geantwortet. Das sähe aus wie der alte Tempel des Jägers in Débar.“
Nachdenklich erhob sich Mara, schnappte sich ihre Jacke. „Und Les?“
„Der kommt allein zurecht.“ Mit einem Blick auf Sakar fügte er hinzu. „Er sollte gleichfalls mitkommen.“
* * *
Der Berg lag vor ihnen, scheinbar zum Greifen nah. Morgen wären sie da, doch das Wetter wurde immer schlechter. Heftige Schneeschauer wechselten sich ab mit Hagelgüssen, Nebel zog auf und wogte auf den Flanken, wand sich verspielten Girlanden gleich um gewaltige Felstrümmer.
Und die Stimmen in seinem Kopf, die keine Stimmen waren; Schatten und Schemen, immer am Rande seines Gesichtsfeldes. Als würde jemand dicht hinter ihm stehen, ihm in den Nacken hauchen oder ins Ohr atmen.
Ungeduldig trieb er sein Pferd den steinigen Abhang hinan, zwischen den vereinzelten knorrigen, vom beständig wehenden Wind gemarterten Bergfichten hindurch. Zerrte das Pferd der Frau, seiner Beute – er sollte nicht so von ihr denken, roch sie –, am Führseil hinter sich her. Sie war müde, erschöpft. Furchtsam. Die Kälte brutal.
Der Nebel wurde immer dichter, narrte sie, schien mit gierigen Fingern nach ihnen zu greifen; Fratzen mit weit aufgerissenen Mäulern in endloser Pein, fast glaubte er, ihre klagenden Schreie zu hören. Das Heulen des eisigen Windes, der die Nebel zerriss und wie eine panische Viehherde über die schroffen Berggrate trieb.
Und plötzlich, in einer Mulde an die Nordflanke geschmiegt, der karge kleine Unterstand, in dem sie die kurze Nacht, geschützt vor Wind und Niederschlag, verbringen würden. Keine ruhige oder gar friedliche Nacht, wie er ahnte; er würde nicht schlafen, würde wachen, und spürte die Nähe der Wölfe.
Die Pferde waren unruhig, sie rochen die Jäger. Er wusste um ihren Hunger; auch sein Hunger, seine Gier.
* * *
Sakar dachte einmal mehr an Priska, wie so oft in diesen letzten Tagen, Wochen, und starrte blicklos aus dem Fenster ins Schneetreiben.
In der Prophezeiung, die den Alten, Liz-Rasul und ihn letztendlich nach Mandura geführt hatte, wurde Prisca schlicht als ‚die Frau vom Meer‘ bezeichnet, nicht sehr prägnant. Sakar war ihr damals, vor gut achtzehn Jahren, in Jasa begegnet. Eine entfernte Verwandte von Kora, die er aus Mircabor kannte; egal, Kora hatte später ja ebenfalls die Inseln verlassen. Wie Prisca. Eine nette, richtig niedliche Frau, die so bemüht war, so bedacht und behutsam in allem, was sie tat. Immer ein wenig furchtsam. Er hätte mehr mit ihr reden, auf ihre Ängste und Befürchtungen eingehen sollen, aber er … Sakar schüttelte seufzend den Kopf. Er hätte sie wenigstens noch einmal aufsuchen sollen: die Frau hatte Angst gehabt, fürchtete sich vor der Zukunft, ihrer aller Zukunft, ihrem Schicksal.
Was dachte er jetzt daran, es war ein halbes Leben her. Er hatte genügend andere Frauen getroffen, interessantere, aufregendere Frauen. Wie die Kleine … Nein! Die ganz sicher nicht. Außerdem war das Mädchen viel zu jung, sie könnte glatt … das Kind, das er und Prisca hätten haben sollen, der Gedanke zu abwegig, um ihn auch nur zu formulieren.
Der Abend, einmal mehr in der ‚Traube‘, doch diesmal ohne Liz oder den Alten, war völlig anders verlaufen, als Sakar das erwartet hatte, und die junge Frau … Vielleicht war sie doch keine Hure, wie er anfangs vermutet hatte, obgleich ihr Verhalten … immer ein bisschen zu sehr, zu intensiv dem Gegenüber zugewandt, viel zu offen. Eine kleine Möchtegern-Kriegerin, wie ihr Aufzug nahelegte? Dieser versoffene Hauptmann hatte sie offenbar ernst genommen, ebenso die anderen Kerle, allesamt Gardisten, an dessen Tisch.
Sakar konnte sich nicht wirklich erklären, warum er die junge Frau mit ‚Kind‘ tituliert hatte, er hegte sicher keine väterlichen Gefühle für sie. Die ihn fraglos interessierte, in mehr als einer Hinsicht, und nicht allein, weil sie tatsächlich schön war. Von einer wilden, gefährlichen Schönheit, er konnte verstehen, warum der Priester, Jo’quin, derart von ihr angetan war und sie nicht einen Moment aus den Augen gelassen hatte.
Doch irgendwas nagte an ihm, steckte ihm wie ein Stachel im Fleisch, und er versuchte, sich genau an ihr Bild zu erinnern. Die Art, wie sie ihr Schwert … Sie trug es auf der falschen Seite, an der rechten Hüfte. Und sicherlich nicht aus Versehen. Sie war Linkshänder, wie er selbst, hatte auch den Bierkrug … Hatte sie? Er war sich nicht sicher, ein Glas besagte nicht viel, wohl aber das Schwert. Doch was brachte ihm dieses Wissen? Nichts. Sie war also gleich ihm Linkshänder und hatte ihre Hilfe angeboten. Bloß war er nicht mehr dazu gekommen, nach der Art ihrer Hilfe zu fragen.
Jemand, mehrere Kerle hatten eine wüste Schlägerei angefangen, Sakar hatte noch das laute, schrille Kreischen einer Frau, die sich am Rande des Getümmels befunden hatte, im Ohr, und der Hauptmann hatte ihm und den Priestern deutlich zu verstehen gegeben, dass sie die ‚Traube‘ schleunigst verlassen sollten. Kurz hatte er sich gewundert, dass weder der Hauptmann noch seine Männer mitgemischt hatten; das passte gar nicht zu dem Bild, das er von Nordländern hatte.
Und er erinnerte sich, wie das Mädchen, Mara, in dem Moment ausgesehen hatte: sehr wach, sehr gegenwärtig und … Er runzelte die Stirn, da war noch etwas anderes. Die Art, wie sie einen Menschen, auch ihn, ansah, als wolle sie alles …
Nein, das war es nicht! Sakar raufte sich die Haare, ihm war schon bei jener ersten Begegnung klar gewesen, dass sie ein gewisses magisches Talent, schwer einzuschätzen, haben musste, aber das erklärte nicht seine Verwirrung. Er erinnerte sich an sein Bedürfnis, sie unbedingt beschützen zu wollen, seinen Unwillen, eher noch Widerwillen, sie neben dem Hauptmann zu sehen, sie mit diesem Kerl mitgehen zu lassen. Aber was machte er sich darüber Gedanken, es konnte ihm doch gleich sein? Dieses Kind, von dem er nichts, überhaupt nichts wusste, konnte ihm völlig gleich sein! Sie war aus dem Süden, dem östlichen Grenzland südlich der Tameran-Kette, das hatte sie gesagt. Sonst nichts. Und ihr Alter, falls er diesen absurden Gedanken doch einmal in Erwägung … Nein. Nein! Das war nicht wahr, sie war nicht … Sie war seine Tochter.
Am liebsten hätte Sakar laut losgebrüllt, fuhr sich zum wiederholten Male durchs Haar; er hatte keinerlei Beweis, nur … Seine Tochter! Er war sich sicher, er brauchte keine Bestätigung, nicht ihre Aussage, dass der Name ihrer Mutter … Er sollte sie fragen, jetzt, sofort! Griff nach seinem Mantel, notwendig in diesem kalten Land, dieser eisigen Nacht, und verbot sich los zu rennen.
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