Ihre Aufgabe bestand darin Toilettenpapier, Papiertaschentücher und alles andere, was es in Drogerien gibt, auf Trolleys zu stapeln. Anschließend wurden die Trolleys mit einer dünnen Plastikfolie umwickelt, etikettiert und zum Warenausgang geschoben, wo Lastwagen warteten. In dem flackernden Neonlicht, der durchdringenden Kälte und dem Staub, der sich in die aufspringende Haut fraß, stieg in Peter ein enormer Kater auf. Am Trolley abstützend, schleppte er sich von Gang zu Gang und alle halbe Stunde schüttete er sich auf der Toilette Wasser ins Gesicht.
Eine Sirene signalisierte die unbezahlte Mittagspause. In der Kantine kauften sie Brötchen mit Würstchen und Tee und setzten sich an einen von den Festangestellten abseits gelegenen Tisch. Peter kämpfte mit Kreislaufblitzen und kriegte keinen Bissen runter.
Um halb fünf war es vollbracht. Es war wieder dunkel. Im Gehen rissen sie wütend ihren Gehaltsumschlag auf, grapschten die 65 Mark 70, warfen das Papier wütend auf den Boden, zerstampften es und schossen es eine Brücke hinunter.
Peter klingelte bei Beate. Sie machte auf und er legte sich in ihr Bett.
Mitten in der Nacht erwachte er. Deprimiert warf er sich hin und her und kämpfte mit den Tränen. Er weckte Beate und fragte sie, ob die Übersensibilisierung durch den Alkoholentzug an Katertagen auch bei ihr so etwas wie eine Parallelverschiebung zur Folge hätte, und dass sie sicher auch das Gefühl kenne, im Kater von einer parallelen Ebene aus, sich selbst zu quälen, nicht körperlich, die körperlichen Folgen wären ätzend aber bedeutungslos, aber psychisch stäche man sich doch immer wieder tief in sein Herz, wie mit einem Nagel in feines Gewebe. Beate tippte ihm wütend ihren Zeigefinger an die Stirn und sagte: „Schlaf!“
In den nächsten Wochen arbeiteten Peter und Gogo täglich in dem Lager. Peter rechnete aus, wie viel Tampons Beate bis zu ihrer Menopause benötigten würde und stülpte Tamponpäckchen in seine Socken, leerte sie in eine Tasche in seinem Spind und holte mehr. Manchmal sechs Ladungen am Tag. Mit Beates Periode würde kein Geschäft mehr zu machen sein. Die Abende verbrachten Beate und er bei Bier, Jägermeister und Spagetti vorm Fernseher. Nachdem Beates Tampon-Lebensvorrat vollständig war, klaute er Ramonas und Einwegrasierer für sich selbst. Dann flog ein Fest-Angestellter auf. Bei einer Haussuchung beschlagnahmte man eine ganze Garage voller Drogerieartikel. Zwei Wochen später hörten Gogo und er auf zu arbeiten.
In den Kleinanzeigen einer Szenezeitung hatte eine interessante Annonce für einen Synthesizer gestanden. Peter hatte angerufen und noch für den selben Nachmittag einen Besichtigungstermin ausgemacht.
Beate und er trödelten die Straßen Zehlendorfs entlang. „Na, hat man auch mal gesehen“, kommentierte sie den Stadtteil. Sie nervte Peter damit aufzuzählen, warum ihre Eltern gemein waren und warum sie ausschließlich auf langhaarige Männer abfuhr. Das alles interessierte ihn überhaupt nicht. Es war ihm sowieso nicht ersichtlich, warum sie darauf bestanden hatte mitzukommen, wie konnte sich jemand nur so langweilen.
Der Verkäufer, ein junger Technikfreak, sein Zimmer roch ungelüftet und war vollgepackt mit Keyboards und Gitarren beachtete sie kaum, sondern fummelte an einem Effektgerät. Aber Peter hatte ein gutes Gefühl, als er die 500 Mark abzählte.
Zu Hause probierte er das Gerät gleich aus. Er stöpselte das Kabel in die Stereoanlage, stellte es auf einen Stuhl, drückte Tasten, Knöpfe und modulierte Töne.
„Das ist ja nur Lärm“, stöhnte Beate. „Ich dachte, damit kann man Musik machen.“
„Muss man sich mit beschäftigen“, erwiderte Peter gereizt, „die Gebrauchsanweisung lesen und so.“
„Ich geh‘ dann jetzt“, sagte sie eingeschnappt und verschwand. Peter klimperte abwesend eine schräge Melodie und dachte darüber nach, was sie jetzt wohl machen würde: Glotzen, Haare färben, betrinken oder mit einer Rasierklinge den Arm aufschneiden.
Er führte Gogo den Synthesizer vor. Sie tranken scheußliches Berliner Bier aus bauchigen Drittelflaschen
Nach einem Halt bei einem Kebabfritzen begossen sie das Instrument und sprachen über die Band und wie sie heißen könnte. ‚Atome’, ‚Rotkehlchen’ oder ‚getrocknetes Brot’ schlug Peter vor. Gogo verwarf alles, hatte aber selber keine Idee. In dem nachfolgenden Vakuum wünschte Peter sich Tobias herbei, mit dem so etwas nie passiert war.
„Nun wird es vorangehen“, wiederholte Peter immer wieder. „Es kann doch gar nicht so schwer sein, dufte Musike zu machen.“
Gogo brummte. Sie tranken und spielten die ganze Nacht Pool Billard.
Im Morgengrauen traf Peter vor der Haustür den Typ aus dem ersten Stock.
„Hey Baldinger“, grüßte der ihn beim Nachnamen. „Hallo Padberg“, gab Peter zurück. Sie grinsten beide breit. Padberg war dürr und gelb im Gesicht. Er hatte gerötete Augen und seine blonden Haare waren schändlich verschnitten. Peter öffnete mit seinem Durchsteckschlüssel die Tür. Wie jedes mal, seit Padberg eingezogen war, verabredeten sie, dass Peter ihn bald mal besuchen käme.
An diesem Abend aber klopfte Peter bei Padberg im ersten Stock. Verschlafen und in Rippunterhose öffnete der: „Ach, du bist es. Komm rein. Sind wir irgendwie verabredet? Ich kann mich an nichts mehr erinnern.“
Er schritt zurück in sein Bett, das mit der Kopfseite an der Wand stand, genau an der Stelle an der auch Peters Matratze drei Stockwerke höher war.
„Wie spät ist es denn?“ fragte er.
Peter las den digitalen Wecker auf dem Tisch ab: „Halb fünf.“
„Oh Schreck. Da muss ich ja wohl aufstehen.“ Er schaltete mit einer Fernbedienung einen kleinen Farbfernseher an, setzte sich in einen Korbsessel, neben dem Bett und fing an, einen Joint zu drehen. Peter setzte sich auf einen der Stühle. Über einem Öl-Radiator hingen Socken und es roch streng nach Schlaf, Wäsche und kaltem Marihuanarauch.
„Heizt du gar nicht mit Kohlen?“ fragte Peter.
„Kann man das?“ fragte Padberg verwundert und sagte: „Bestes Gras, Acapulco Gold. Nur die Blüten, da kommt kein normales Dope mit.“
Er kokelte das Hütchen an der Spitze ab, schnippte es weg, entfachte das Gras und inhalierte tief. Dann reichte den Joint Peter. Der sog daran. Es war wie ein Hammerschlag gegen das Innere seines Gehirns. Flirrende Punkte. Lust. Schrille Menschen, das DDR-Sandmännchen. Es musste wohl Padmann sein. Wo war er nur? Wo war der Mann? Der Pad, der Patt, der Pack. Schallendes Gelächter. Zerschmetterndes blaues Glas. Sprühende blaue Funken, weich wie Brüste.
Ohne Zeitgefühl kam er langsam wieder zu sich.
„Kennst du eigentlich die Leute, die hier wohnen? Ich kenn‘ nach mehr als zwei Jahren, immer noch niemand“, sagte Padberg, der resistent auf das Marihuana schien.
„Hast du noch keine Bekanntschaft mit der Hauswartsfrau gemacht?“ fragte Peter mit schwerer Zunge. Weiterhin schaffte er es nicht seine Mundwinkel zu kontrollieren, die immer noch nach oben drifteten.
„Schon, schon, aber sonst?“
„Neben der Hauswartsfrau wohnt eine Gans, die...“
„Nee, das mein ich nich! Ich mein die Frau im dritten“, unterbrach ihn Padberg.
„Ach so! Sag das doch gleich! Franka heißt sie. Ich hab‘ mal ihre neurotische Katze gepflegt. Ihre Wohnung ist dufte groß und hell, viel besser als unsere Löcher. Sie hat überall auf Wäscheleinen und in Gläsern komische Kräuter. Der Gestank ist penetrant. Irgendwie säuerlich, vergammeltes Essen, Katzenklo und Kräuter gemischt. Ach ja, und überall Sexwäsche. Nicht mein Typ die Tante. Studierst du eigentlich?“
„Ach Blödsinn, ich bin eingeschrieben für Filmtheorie, aber nur so, wegen der Versicherung und meiner Eltern und arbeite nachts als Kassenfuzzi im ‚Passagenkino‘. Immer wenn ich genug Geld zusammen habe, verreise ich. Bald muss ich wieder weg. Noch so einen Winter wie diesen, ertrage ich nicht. Nie ist es hell und diese Kälte, das hält man doch nich aus!“
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