Wie eine Gefahr wirkt sie nicht. Seit ihrem Stolpergang über den Parkplatz weiß er, dass sie nicht nüchtern ist. Eine Trinkerin kann ihm nicht gefährlich werden. Trotzdem hängt er sich an sie dran. Ihr Name ist Ilka Bund, soviel weiß er schon. Sie hat die Verwaltungsschule besucht. Das hätte er ihr gar nicht zugetraut. Gerade folgt sie dem Abteilungsleiter, der sich als Chef glänzend profiliert, indem er seine Schäfchen vorstellt.
Just in dem Moment trifft ihr Blick seinen.
So ein Mist.
Hastig dreht er sich weg. Er lässt einige Sekunden verstreichen, bevor er sich wieder nach ihr umsieht. Sie wirkt ahnungslos – hat gar nicht bemerkt, was sie sieht. Wie viel Promille verdaut sie gerade?
*
Wie ein folgsames Schaf trottet Ilka Bund hinter Stuck her, der den EDV-Sachbearbeiter ansteuert. Ihr anfänglich euphorisches Interesse ist erloschen. Aber jetzt gibt es kein Zurück.
Plötzlich bekommt ihr Adrenalin einen Stoß.
Lauert dort jemand in der Ecke?
Sie schaut genauer hin, doch Stuck informiert sie unablässig über die Wichtigkeit jeder einzelnen Funktion in seiner Abteilung – vor allem die EDV. Er lenkt sie ab.
Mit Mühe folgt sie ihm durch verwirrende Ecken und über schmale Treppen, bis sie ein verrauchtes Zimmer betreten.
Ein junger, sportlich gekleideter Mann stellt sich als Andreas Walgert vor. Stahlbaue Augen leuchten sie an. Locker bewegt er sich. Galant bietet er ihr einen Platz an. Er ist nicht allein. Der dürre Pförtner ist der Luftverpester. Der Aschenbecher vor ihm quillt über. Ein Mann, dessen Augen schon in der Frühe glasig glänzen, stellt sich als Fritz Schön, Referatsleiter für Sozialpolitik vor. Er nippt an seinem Kaffee. Ilka ahnt, was noch in der schwarzen Brühe schwimmt. Alkoholdunst geht von ihm aus. Wie schön: Fritz Schön übertrifft ihre eigene Fahne. Besser geht’s nicht. Ihre Gedanken werden durch das Eintreten der Frau abgelenkt, die sie vor wenigen Minuten im Streitgespräch mit dem rothaarigen Herumtreiber beobachtet hat.
„Dieser Voss“, schimpft sie.
„Was ist es dieses Mal?“ Fritz Schön grinst lässig. Sein Interesse gilt mehr dem Inhalt seiner Kaffeetasse, als dem Klagen seiner Mitarbeiterin.
„Du bist witzig. Immerhin gehört die Petition zu deinem Referat. Da sollte es dich schon interessieren, was dort mit den Antragstellern...“ Ihr Blick fällt auf Ilka. Hastig verschluckt sie den Rest ihrer Antwort, stellt sich als Mareike Volkerts vor, die Personalratsvorsitzende.
Abseits steht wie ein Zinnsoldat ein Mann Ton in Ton mit dem grauen Hintergrund. Ilka sieht ihn nur durch Zufall. Sie erschrickt. Aber Stuck macht sich nicht die Mühe ihn vorzustellen. Oder hat er ihn ebenfalls nicht bemerkt? Die Augen des Zinnsoldaten funkeln wachsam, als entginge ihnen nichts. Ilka schaudert. Zu gern folgt sie Stuck aus dem Zimmer hinaus.
Ein demonstrativer Blick des Abteilungsleiters auf seine Uhr zusammen mit der Erklärung, er habe einen dringenden Termin bei der Ministerin, haben ungeahnte Folgen. Sekunden später steht Ilka allein in einem fremden, dunklen Flur. Sie weiß nicht, wie sie in ihr Büro gelangen soll. Viele Gänge führen in die undurchdringliche Schwärze, alle Türen sehen gleich aus.
Da verweilt sie nun, keine Menschenseele in Sicht, alles still, als sei niemand im Haus.
Na toll!
Ilka lehnt sich an die Wand. Sie vermag nicht zu sagen, wie lange sie schon in dem aussichtslosen Schwarz verharrt. Zeit und Raum verflüchtigen sich zu einer Dimension.
Plötzlich hört sie eine Tür schlagen. Schritte geistern auf sie zu, bis sie in ein grinsendes Gesicht schaut. Ihr Erlöser ist groß, kräftig, schwitzt auf seiner Halbglatze. Der Hosenbund wird von seinem Bauch heruntergedrückt. Ihre Blicke treffen sich. Schnell zieht er seine Jeans hoch, stopft sein Hemd in die Hose, um besser auszusehen.
Er geleitet sie zu ihrem Arbeitszimmer.
*
Der Verkehrslärm der Böllstraße rauscht gedämpft durch das geschlossene Fenster. Gelegentlich klappern Schritte von Fußgängern, begleitet von unablässigem Wortschwall über den Bürgersteig direkt am Haus.
Die Aktenschränke und Regale kommen Ilka plötzlich nicht mehr hässlich vor. Im Gegenteil, sie geben ihr das vertraute Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Hier liegt die Antwort, die sie sucht. Die Lösung um Marisas Scheitern.
Aber wo?
Es kracht und knarzt. Ilka zuckt erschrocken zusammen. Sie schaut in das Gesicht von Frau Magath.
„Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns kennenzulernen. Ich kenne mich in der Registratur gut aus, kann Ihnen alles zeigen.“
„Toll! Ich habe erfahren, dass hier die Altenheimakten abgelegt werden.“
„Welches Heim suchen Sie?“
Die fixe Frage bringt Ilka ins Stottern. „Das Haus heißt ‚Orpheus’.“
Frau Magath öffnet verschiedene Stahlschränke und sucht. Mit leeren Händen kehrt sie zurück.
„Das Haus wurde inzwischen geschlossen“, fällt Ilka erst jetzt ein. Wie auf Kommando wird ihr Blick schuldbewusst.
„Dann ist die Akte an einem anderen Ort.“
Frau Magath steuert einen alten, klapprigen Holzschrank an, öffnet ihn, wodurch sie den Blick auf weitere Akten freigibt. Auch dort findet sie nichts.
„Komisch! Hier müsste sie sein.“
Ilka spürt neben wachsender Enttäuschung neuen Ansporn. Das Verschwinden der Akte stellt sich wie eine Offenbarung dar. Was da im Verborgenen bleiben soll, ist genau das, was Ilka herausfinden will.
Mit langsamen Schritten steuert sie ihren Bürostuhl an, als die Tür zum Flur weit aufschwingt und gegen Aktenschränke donnert. Gilfort tritt ein, begleitet von einer Frau mit signalroten Haaren. Unwillkürlich bremst Ilka ab. Welche Reaktionen diese Frau im Straßenverkehr wohl hervorruft?
Selbstbewusst stolziert sie auf Schuhen herein, deren Absätze noch höher und dünner sind als Ilkas. Eine Geruchswolke umwabert sie, die Ilka fast zur Ohnmacht treibt. Eine grüne Brosche ziert den Kragen ihres ebenfalls grünen Kleides. Sie stellt sich mit dem Namen Olga Kapok vor, Sachbearbeiterin im Referat Altenpolitik.
Ilka sucht ihr ramponiertes Gedächtnis nach diesem Namen ab. Aber Olga Kapoks aufgesetztes Lächeln mit kleinen, spitzen Zähnen lenkt ab. Ihre grünen Augen funkeln böse, dabei zeigen ihre Mundwinkel nach oben. Mit angespannter Liebenswürdigkeit erklärt sie: „Meine Altenheimakten finden Sie in diesem Schrank.“ Dabei zeigt sie auf eines der grauen Stahlgebilde. „Die Aktenzeichen sind in numerischer Reihenfolge einsortiert. Damit kennt sich jedes Kind aus.“
„Dann werde ich es auch schaffen.“
Olga Kapok überhört den Seitenhieb.
Ilka beobachtet, wie die Tür zum Flur leise zufällt.
Hat jemand gelauscht? Sie schaut sich um.
Niemand scheint hier etwas zu bemerken. Im Gegenteil. Das Gespräch geht einfach weiter. „Wollen wir Ihren Einstand feiern?“, bringt Gilfort den Grund seines Auftauchens zur Sprache.
„Einstand?“
„Bei uns ist das so üblich.“
„Wer sagt denn so etwas?“, meldet sich Frau Magath mit fester Stimme zu Wort. „Bisher war es jedem selbst überlassen, ob er einen Einstand feiern will oder nicht.“
„Ich wollte unserer neuen Mitarbeiterin einfach nur den Rat geben, wie sie sich bei uns gut einleben kann.“
„Indem Sie sich anbiedert?“
„Was wissen Sie über unsere Gewohnheiten?“, unterbricht Olga Kapok den Streit zwischen Gilfort und Frau Magath. „Sie arbeiten erst seit zwei Jahren hier.“
Die Abfuhr zeigt Wirkung.
Ilka beendet die Diskussion. „Ich werde auf Herrn Gilforts Vorschlag eingehen und meinen Einstand feiern. Es kann nicht schaden, meine neuen Arbeitskollegen besser kennenzulernen.“
Frau Magath wird hochrot im Gesicht. „Natürlich“, haucht sie und eilt in den Nebenraum.
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