Blaulicht blinkt zwischen den Gemäuern der Pfahlstraße, Sirenengeheul unterbricht die Beamtenstille im Regierungsviertel. Sie parken vor dem Ministerium für Sozialpolitik und Frauenpolitik – nichts, was auf einen lebensgefährlichen Arbeitsplatz hindeutet. Und doch stehen sie vor dem antiken Haus - gerufen von einer Anruferin, die einen höchst ungewöhnlichen Todesfall gemeldet hat.
Reste von Skulpturen bilden klägliche Zeugen einer längst vergangenen Epoche. Putz bröckelt, legt uraltes Mauerwerk frei. Neben der Eingangstür sitzt ein Mann, der genauso alt aussieht. Er hält einen Hut auf. Kleine Äuglein blitzen zwischen tiefen Runzeln, fettige Haare lugen unter seiner verfilzten Mütze hervor. Verschiedenfarbige Mäntel liegen auf ihm – trotz der unerträglichen Schwüle. Betroffen durch den Anblick wirft der Polizeibeamte einige Münzen in den leeren Hut.
„Es ist schön, wenn jemand etwas für diese armen Menschen übrighat.“ Diese Worte lassen den Kriminalisten in das von langen, glänzenden Haaren eingerahmte Gesicht einer Frau schauen.
„Wer sind Sie?“
„Mein Name ist Magath. Ich habe Sie gerufen.“
Kriminalhauptkommissar Dierk Betz und sein Begleiter folgen Frau Magath durch einen langen, düsteren Flur. Skurrile Figuren durchbohren sie mit ihren Blicken von der Decke herab. Gipserner Stuck bringt die Wände ein Stück näher.
„Sind Sie allein in dem großen Haus?“ Die Totenstille drängt Dierk Betz die Frage auf.
„Ich weiß es nicht. Als ich den Chef informieren wollte, habe ich niemanden angetroffen.“
An einer schmalen, hölzernen Tür bleibt Frau Magath stehen.
Dahinter bietet sich den Polizeibeamten das Bild eines beengten Durchgangs - zu beiden Seiten mit Kartons zugestellt.
Sie steuern Treppenstufen an, die in die Tiefe führen. Aber schon von ihrem Standpunkt aus nehmen sie das Bild menschlicher Überreste mit unangenehmem Geruch wahr. Das Gefühl von Übelkeit nimmt mit jedem Schritt zu, den sie sich dem Fundort nähern. Stählerne Regalwände überragen sie bedrohlich. Schienen auf dem Boden bringen Dierk Betz zum Stolpern. Fast wäre er in der undefinierbaren Masse gelandet. Eine heimtückische Falle!
Mit einem Anflug von Panik kehrt er um, überlässt den Kollegen der Spurensicherung und dem Gerichtsmediziner den Tatort.
„Können Sie erkennen, wer der Tote ist?“, fragt Dierk Betz.
„Es könnte Theo Hasard sein.“
“Wie kommen Sie auf ihn?“
„Genau in dieser Reihe befinden sich seine Akten.“
Unwillig wirft der Kommissar seinen Blick zurück auf die Fundstelle. „Was ist das für ein monströses Gebilde?“
„Ein Rollarchiv“, erklärt Frau Magath. „Die Regalwände bewegen sich auf Schienen.“
„Aber nicht automatisch“, stellt er fest. Probehalber dreht er an der Kurbel. Lautstarker Protest des Gerichtsmediziners ertönt.
„Nein“, stimmt Frau Magath zu. „Einen Motor gibt es nicht.“
*
Leere - in Dunkelheit eingehüllt – keine menschliche Stimme, keine Geräusche, nichts. Die Apokalypse! Wann hat sie stattgefunden? Während ihres letzten Thekenmarathons?
Ilka verirrt sich, steht wieder in Marisa Herforders Badezimmer.
Marisa erhebt sich aus dem blutroten Wasser, streckt ihr die Hand entgegen. Ilka erkennt, wie lange sie schon tot ist. Der Geruch wird immer beißender je näher sie kommt. Ihr Körper schwillt mit jedem Schritt an, ihre Haut verfärbt sich grün, ihre Gesichtszüge entgleisen. Ilka ekelt sich, will das aber vor ihrer besten Freundin nicht zugeben. Sie bleibt stehen, lässt sich von Marisa umarmen.
Erschrocken reißt Ilka die Augen auf. Aber sie sieht nichts. Sie steht im engen Fahrstuhl. Kein Licht. Keine Bewegung.
Sie steckt fest.
Die Bilder stecken in ihrem Kopf fest.
Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!
Sie zwingt sich, an etwas anderes zu denken. Weit kommt sie damit nicht. Ihre Gedanken landen bei Marisa.
Marisa, die gute Seele.
Ilka lacht freudlos.
Ohne Marisa, wo wäre sie heute? Bestimmt nicht bei der Polizei. Vermutlich auf dem Strich oder bei den Junkies.
Aber wie dankt Ilka es ihrer Retterin? Sie hat sich noch nicht einmal die Zeit genommen, Marisas Scheitern ernst zu nehmen. Ilka fühlt sich an ihrem Tod schuldig. Jetzt, wo es zu spät ist, jetzt will sie alles wieder gut machen, ihr Gewissen beruhigen. Und was kommt dabei heraus?
Der nächste Tote.
Ist sie ein Todesengel?
Wenn ja, dann such nach dem Positiven in dem Schlamassel, ermahnt sie sich. Genau so, wie sie es von Marisa gelernt hat.
Ein Polizeieinsatz ist geboten, und sie will den Einsatz übernehmen, hat alle Register ihrer Überredungskünste gezogen und gewonnen.
Nicht genug der Highlights in ihrem Leben: Im richtigen Moment bleibt der dämliche Fahrstuhl stecken.
Ihr Hirn wummert gegen die Schädelwand. Die Schwärze erdrückt sie. Die Wände kommen auf sie zu. Von einer rasenden Wut gepackt schlägt sie mit den Fäusten dagegen, und schreit und schreit und schreit. Ihr wird schwindelig, ihre Handgelenke schmerzen, ein Hustenanfall würgt sie.
Wird sie hier drin ersticken?
Schüttelfrost kriecht eisig durch sämtliche Glieder. Die Zähne klappern. Die Hände zittern. Die Knie schlottern. Die Luft wird knapp. Wenn der verdammte Fahrstuhl sich nicht bald bewegt...
Zzzrrh! Bing. Tür auf.
Endlich.
Ein langer Gang in schummrigem Licht liegt vor ihr. Sie atmet tief durch, richtet ihre Kleider, fährt sich übers Haar, in der Hoffnung, nicht so auszusehen, wie sie sich fühlt. Das erste Mal, dass Ilka es bis ins Landeskriminalamt schafft – bleibt sie im Fahrstuhl stecken. Und das, wo sie an Klaustrophobie leidet wie keine andere.
Sie sieht nur geöffnete Türen. Wie einfach. So findet sie schnell das richtige Büro, wo sich ihre zukünftigen Kollegen versammeln.
Ihr Eintreten ruft keine Begeisterung hervor. Das fängt ja gut an. Ilka ahnt, warum. Sie hat selbst auf ihren Einsatz bei diesen Ermittlungen bestanden, hat dem Leiter der Ermittlungsgruppe keine Ruhe gelassen.
Und jetzt ist Dierk Betz nicht da.
Dafür David Baum.
Groß und blond sitzt er da - eine Augenweide. Verdankt sie ihren verdeckten Einsatz womöglich ihm? Genug ins Zeug gelegt hat sie sich ja. Ergötzlich erinnert sie sich daran. Nur – so wie es gerade jetzt aussieht – stehen ihre Chancen längst nicht mehr so gut. Neben David sitzt eine junge, blonde, gertenschlanke Schönheit – die neue Polizeianwärterin, die seine volle Aufmerksamkeit genießt.
Allerdings nicht nur seine…
„Kommen Sie das nächste Mal pünktlicher!“ Das unfreundliche Brummen des Beamten am Kopfende des Tisches reißt sie aus ihren Betrachtungen.
Soviel zur Vorstellungsrunde.
„Sehen Sie das nächste Mal zu, dass der Fahrstuhl nicht stecken bleibt!“, kontert sie.
„Gucken Sie mal raus! Bei dem Sturm geht man besser Treppen“, kommt es von dem Kollegen genauso schlagfertig zurück.
Ilka verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse.
An dem einzigen freien Platz liegen Unterlagen. Schon von weitem kann Ilka den Namen Theo Hasard lesen.
*
Gemurmel entsteht im Flur. Eine Gruppe von Männern und Frauen nähert sich dem Archiv.
Mit majestätischem Gebaren postiert sich ein großer Mann vor die anderen. Sein erblassender Rotschopf neigt sich in spöttischer Herablassung zur Seite als er spricht: „Was tun Sie hier?“
„Wer sind Sie?“, fragt Dierk Betz zurück.
„Ich bin hier der Arbeitsleitungsleiter für die Abteilung Sozialpolitik. Also habe ich wohl zuerst das Recht zu fragen!“
Dierk Betz verzieht seine Lippen zu kaum verhohlenem Spott. Er erklärt seine Funktion und den Grund seiner Anwesenheit.
Der Abteilungsleiter richtet seinen Kopf gerade. Seine Stirn in Falten gezogen sagt er: „Mein Name ist Karl-Otto Stuck. Ich bin entsetzt.“ Mit einem Blick auf Frau Magath fügt er an: „Was fällt Ihnen ein, eigenmächtig zu handeln? Sie sind nur im Rahmen eines Eingliederungsprojekts hier beschäftigt. Sie haben keinen Kündigungsschutz. Bedenken Sie das!“
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