Sie wandte ihm das Gesicht zu, einen kurzen Moment erschreckend klar und gegenwärtig, bevor sie beinah vom Stuhl fiel, als sie aufzustehen versuchte. Eilig hielt er sie fest, presste sie viel zu heftig, viel zu gierig an sich. „Nicht!“
„Nich?“
„Geh nicht weg. Hier … im ‚Anker‘ soll es Zimmer geben“, bemerkte er wie nebenher.
„Aye …“
Ein Wort, fast gehaucht, geflüstert, und er stand in Flammen, hätte sie… Aber er musste sie festhalten, da sie kaum stehen konnte, schwankte. Sich an ihn lehnte. „Versprich dir nichts …“
„Nein.“ Nur die Welt, die Ewigkeit, diese eine Nacht. Wieder spürte er ihren Blick auf sich, als kenne sie jeden seiner Gedanken, und küsste sie hastig auf die Schläfe. Schaffte sie aus dem Schankraum und die elend enge, dunkle Hintertreppe hinauf, den Weg kannte er inzwischen. Auch das kleine, bedrückend niedrige Zimmer, in dem es muffig roch, selbst wenn man das Fenster weit aufriss … Aber es war ohnehin zu kalt.
* * *
Tessa beobachtete angespannt ihren Bruder, der wie getrieben durch die königlichen Wohnräume wanderte, rastlos, die Miene finster. „Reik? Ich hatte gefragt…“
„Wie es ihr geht?“ Abrupt wandte er sich zu ihr um, wie ein gereiztes Raubtier, das zuschnappte. „Was glaubst du, wie es ihr geht?! Beschissen, halb wahnsinnig vor Trauer und Schmerz, sie weiß doch gar nicht mehr…“ Er fuhr sich über das Gesicht, atmete einige Male tief durch und setzte sich neben sie, griff nach ihrer Hand. „Und sie lässt niemanden an sich heran, sie reagiert nicht, antwortet nicht, redet nicht. Aber ich kann sie doch nicht zwingen. Ich weiß nicht mehr weiter, Tessa, ich weiß nicht, was ich noch tun soll, wie ich ihr helfen kann. Ich verstehe und teile ihre Trauer, Davian war … Scheiße, er war mein Freund! Nicht allein mein bester Mann, mein wichtigster Hauptmann, er war mein Freund.“
„Obwohl er doch…“
„Ja.“ Eindringlich blickte er ihr ins Gesicht, fast schon herausfordernd, aber so war er, immer gewesen, und seitdem er Winterkönig war noch viel mehr. „Obwohl er sie geheiratet hat. Die Frau, die ich liebe. Seltsam, nicht?“
„Reik …“
Resigniert schüttelte er den Kopf. „Sein Tod wird immer zwischen uns stehen, es wird nie wieder… Sie wird mir das für alle Zeiten vorwerfen, sie wird mir das nicht verzeihen, niemals.“
„Aber du bist doch nicht…“
„Schuld? Ich bin verantwortlich für den Tod ihres Mannes, Tessa, ich bin Heerführer. Verantwortlich für den Tod eines jeden Soldaten, der für mi… für Mandura kämpft.“ Er presste die Lippen zusammen. „Und manchmal ist es zu viel, ist es zu verdammt nah.“
Sacht legte sie die Arme um ihn, lehnte den Kopf an seinen. Hörte ihn unterdrückt schluchzen. „Ich kann nicht einmal zu ihr gehen, Tessa, ich kann nicht… Nicht einmal mit ihr reden, verdammt noch mal. Ich befehlige Zehntausende, ein ganzes Land in diesem verfluchten Krieg, aber sie kann ich nicht… Schöne Scheiße, hm?“ Mit tränenfeuchtem Gesicht sah er auf, so verletzlich, so unglücklich, sie musste ihn einfach küssen. Erst nur auf die Wangen, doch dann auch auf den Mund. Kein sehr schwesterlicher Kuss, den er erwiderte.
Verlegen, mit glühend rotem Kopf ließ sie ihn erschrocken los. Ihre Knie zitterten, sie fühlte sich verwirrt, schwach vor … „Tut mir leid, ich, ich…“
„Entschuldige dich nicht, Tessa, nicht dafür.“ Seine Augen glitzerten. „Kleine Schwester.“
* * *
Kein Vogelgezwitscher, kein Sonnenschein, nur mehr Schnee und noch lange keine frühlingshaft milde Luft. Die Stimmung in der Stadt gedrückt, trotzdem die Manduraner die Gefechte in und um Birkenhain für sich entschieden hatten. Doch der Erfolg war teuer, allzu teuer erkauft worden.
Abwesend rieb Sakar sich den Arm, die Verletzung war alt, der Bruch längst verheilt, und wartete geduldig. Auf seine Tochter. Er war sich nicht sicher, ob sie seiner Aufforderung, Einladung, nachkommen würde. Sie trauerte, auf die schlechtmöglichste Art, aber wer war er, darüber zu urteilen. Bloß ihr Vater, der sie gar nicht richtig kannte, erst diese wenigen Monate mit ihr… in ihrer Nähe verbracht hatte. Derweil in diesem Land, so kalt und ihm so fremd, Krieg herrschte. Und doch hatte er hier nicht allein seine Tochter, sondern mit Réa vielleicht eine Partnerin, sein kleines, privates Glück gefunden. Vielleicht, ja, vielleicht; er hoffte, träumte, achtete nicht auf seine Umgebung.
„Wieso hier?“
Er ließ sich seine Überraschung, seinen Schreck über Maras liederliches, ja schlampiges Aussehen nicht anmerken, als diese humpelnd, das linke Bein schonend, an seinen Tisch trat. „Du sagtest mal, es gefiele dir hier. Und in den Unterkünften im Palast…“, er zögerte, drückte sich vor einer klaren Aussage, „wollte ich dich aus vielerlei Gründen nicht aufsuchen.“
Mara zog bloß die Augenbrauen hoch und griff zu dem Glas, das der Wirt kommentarlos vor sie gestellt hatte, trank bedächtig. „Wozu dieses Treffen? Du willst mir sicher nicht beim Trinken zusehen.“
„Oder dabei, wie du…“ Er biss sich auf die Lippen, er sollte das nicht, nicht auch noch auf ihre feindselige Art und ihr provokantes Verhalten eingehen. Hose und mehr noch ihr Hemd, das mehr enthüllte, als ihm behagte, waren dreckig und zerrissen. Er berührte sacht ihr Handgelenk. „Möchtest du was essen?“
Mara entzog ihm, ziemlich hastig, ihre Hand, schüttelte den Kopf. „Lass.“
„Weshalb ich mit dir reden, weshalb wir zwei dringend miteinander reden sollten“, versuchte Sakar es erneut und griff nun mit beiden Händen nach ihrer Hand, barg sie fest in seinen. „Mara, was du … Deine Trauer, um deinen Mann, eure Liebe, euer gemeinsames Leben, das… ist nur zu verständlich, das kann jeder nachvollziehen. Doch was du… Du hast, dort, eine Stufe der Magie erklommen, die dich auf immer ein Stückweit von allen anderen Menschen trennen wird, fürchte ich, diese Kluft kannst du, kann auch kein anderer je gänzlich überwinden.“
„Du versuchst es aber?“ Sie hob leicht ihre Hand an, und er griff nicht noch fester zu. Blickte ihr in die Augen. „Ich danke dir, dass du es nicht getan hast. Dass du nicht… die ewige Nacht nicht hast anbrechen lassen.“
Sie zuckte die Achseln, ihr Blick abwesend, kalt und weit, weit fort. „Irgendwann erschien es so viel leichter … einfacher , nur immer weiter zu machen.“ Ihr plötzliches Lächeln war geradezu schmerzhaft. „Du hast für tagelangen Nebel gesorgt?“
„Schien mir…“ Sein Hals so rau, dass er kaum sprechen konnte. „Mara, kann ich dich denn nicht einmal tröstend in den Arm nehmen?“
„Kannst du doch.“
„Aber dann bin ich schuld, wenn du weinst!“ Er legte die Arme eng um ihre Schultern.
„Bist du ja auch.“
* * *
„Also, falls ich’s noch nicht oft, und laut, genug gesagt habe, das Frühstück hier gefällt mir besser.“ Lennart lehnte sich, offenbar fürs erste gesättigt, auf seinem Stuhl zurück und blinzelte Tessa dreist zu. „Könnte an Eurer Gegenwart liegen, Prinzessin.“
Tessa errötete nicht, sie hatte sich an Lennart, seine mitunter doch sehr lockere, fast ungehobelte Art gewöhnt und mochte den Mann im Grunde recht gern. „Dabei habt Ihr jetzt doch weibliche Gesellschaft in Eurer Unterkunft.“
„Ja-ha…“, klagte der Mann. „Mit Verlaub, die Dame Gretta ist mir ein wenig zu alt, ihr Töchterchen ein verstocktes, verschrecktes Kind. Und dieser Tom…“
„Ganz so schlimm ist er wirklich nicht“, fiel ihm Mikkie gutmütig lachend ins Wort. „Der Junge sucht eben Anschluss, Gesellschaft.“
„Klebt uns… dir an den Hacken“, moserte Lennart weiter.
„Er weiß nichts Rechtes zu tun. Die armen Leute haben ihre Heimat verloren, Lennart, alles. Rod und auch Meister Sakar erzählen, Birkenhain gäbe es nicht mehr, das Dorf wäre vollkommen zerstört worden.“
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