»Lotte Fisker war, laut Liste, unter den Passagieren, die Lun gestern Abend mit der letzten Fähre verlassen haben. Richtung Büsum.«
»Schkit!«, rutscht es mir heraus. Scheiße !
»Uns fehlt also das Puzzleteil wie sie wieder hergekommen ist«, umschreibt Meitje meinen Ausruf. »Weder Hafenmeister noch Fluglotse haben Kenntnis über private Rückkehrer. Der Flughafen ist ohnehin seit gestern Nachmittag geschlossen und evakuiert, genauso wie Hallem.«
Hallem, die kleine Nebeninsel, auf der sich der winzige Flugplatz befindet.
»Es kommt aber noch dicker«, warnt Ole vor. »Seit gestern Abend wird Neele Schmidt vermisst, die Freundin, zu der Lotte angeblich wollte. Ich habe vorhin die Info aus Büsum bekommen. Ihre Eltern können sie weder finden noch erreichen. Laut deren Aussage, ist sie noch nie ausgebüxt und es sähe ihr wohl auch nicht ähnlich.«
»Noch eine Hiobsbotschaft?«, frage ich in die Runde. Die Vorzeichen, den Fall aufzuklären, stehen nicht gut.
»Eins der Fahrräder ist kaputt«, berichtet Sven stoisch. »Kette gerissen. Keine Ersatzteile.«
Er schaukelt mit den Schultern, als wir ihn alle anschauen. Bullenhumor. Kein Außenstehender kann das verstehen, aber ohne Humor, so makaber er manchmal auch sei, lässt sich das nicht auf Dauer aushalten. Auf Lun vergisst man den Ernst und die zehrende Polizeiarbeit manchmal, weil man sich hier nicht primär als Ordnungshüter definiert, sondern als Nachbarschaftshilfe.
»Und zum Fall?«, konkretisiere ich.
Kopfschütteln, Gähnen, Stieren. Dazwischen Nippen an den Kaffeetassen. Sven dreht sich schon eine Zigarette.
»Soll ich die übrigen Kameraden einberufen? Wir könnten beim Klinkenputzen unterstützen«, bietet der Feuerwehrkommandant an, der auf knapp 40 freiwillige Helfer zurückgreifen kann, wobei jetzt wahrscheinlich nur noch eine Handvoll hier sein dürfte – die Alters- und Ehrenabteilung, denn die Jugend wurde ausnahmslos von der Insel geschafft, um den Fortbestand der Halunder zu sichern. Lotte ist die Ausnahme – ungewollt.
Oles Blick drückt das aus, was ich denke. Was, wenn einer dieser Freiwilligen der Täter ist? Er könnte uns manipulieren, in die Irre führen. Mit der ersten Fähre nach dem Orkan wäre er spurlos verschwunden. Oder er hat ein eigenes Boot und wagt den Weg zum Festland in den schwachen Ausläufern des weiterziehenden oder verebbenden Orkans.
»Wir kommen darauf zurück, wenn es nötig ist«, bedanke ich mich höflich. »Sensibilisieren Sie Ihre Leute aber auf jeden Fall. Nicht nur der Sturm könnte zu Einsätzen führen.«
Er murmelt Bereitschaft und macht sich auf den Weg. So reduziert sich die Runde stetig.
»Alle Ankünfte werden verzeichnet«, denke ich laut nach und erhalte Zustimmung. »Was ist mit denen, die unter dem Radar durchflutschen oder gar nicht erst anlegen, sondern nur im Nahbereich ankern und vielleicht mit Minibooten oder Muskelkraft ans Ufer kommen?«
»Sehr gewagt bei dem Wellengang«, sagt Meitje.
»Aber möglich, unter Lebensgefahr«, ergänzt Ole.
»Und wenn es noch jemand vor dem Sturm geschafft hat? Nach der letzten Fähre?«, denke ich weiter.
»Lotte war zweieinhalb Stunden bis Büsum unterwegs, noch einmal zweieinhalb Stunden, oder mit einem Schnellboot knapp über eine Stunde zurück«, rechnet Ole, »Ankunft wäre mitten in der Nacht gewesen, wo der Sturm schon wütete. Dafür bräuchte es einen vollgetankten Seenotkreuzer mit wagemutigem Kapitän, um dem Wellengang zu trotzen. Und selbst dann wäre der nicht unbemerkt eingelaufen. Kleinere Schiffe wären gekentert oder zerschellt, ganz sicher.«
»Könnte sie während der Überfahrt zum Festland umgestiegen sein, auf ein kleineres Boot, das herangefahren ist und sie aufgenommen hat?«, laufe ich im engen Besprechungsraum umher.
»Nein«, ist sich Meitje sicher, »Das hätte dokumentiert werden müssen, nicht nur von der Fähre, sondern auch von den Häfen und Lotsen.«
»Ich weiß«, knirsche ich mit den Zähnen, voll in Gedanken. Aber das Besprechen hilft, die Gedanken zu ordnen. Man übersieht schnell etwas, was später entscheidend werden könnte.
»Wenn wir uns Lun anschauen, dann gibt es nur eine Möglichkeit, wo jemand relativ unbemerkt an Land kommen kann: Hallem«, sage ich. Die flache Nebeninsel ohne Bewohner, wo inmitten der Dünenlandschaft unser tagsüber besetzter Flugplatz ist, neben weißen Sandstränden, einem Golfplatz, dem Friedhof der Namenlosen – für auf See gebliebene Seelen – und einem Campingplatz sowie einem Bungalowdorf nebst Anlegestelle für den Transfer von und zur Hauptinsel, außerhalb der Hauptsaison alles außer Betrieb. »Aber wie würde dieser Jemand nach Bopperlun, Meddellun oder Deelerlun gelangen, wenn doch alle Verbindungen eingestellt sind?«
»Mit der Strömung als Fischfutter«, antwortet Sven mit tiefer Stimme, den Blick auf seinen bröseligen Tabak in der Papierrolle gerichtet.
»Oder sie ist gar nicht erst eingestiegen«, wirft der Bürgermeister ein. »Vielleicht hat sie jemand davon abgehalten oder sie hat gelogen.«
»Ihr Bruder bezeugt ihre Abfahrt«, kontere ich sachlich.
»Und wenn der auch lügt?«, stichelt der Bürgermeister weiter.
»Wieso sollte er?«
»Um seine Schwester zu schützen.«
»Bürgermeister«, er hat einen Namen, Hans Kniiper, aber alle nennen ihn schlicht Der Bürgermeister , »Ich glaube nicht, dass die Familie Fisker so unverfroren ist. Das sind Halunder. Die lieben ihre Insel und das spartanische Leben. Deren Kinder sind wohlerzogen und würden uns nicht anlügen. Alles, was gesagt oder getan wird, kommt in Lun auf einen zurück. Niemand der Fiskers würde es riskieren, seine Familie zu beschmutzen. Das sind ehrwürdige Leute.«
Und manchmal Raufbolde, wie sich herausstellte.
»Sie lehnen sich weit aus dem Fenster für die Fiskers«, wundert sich der Bürgermeister und rückt seine Brille hoch.
»Jeder ist unschuldig, bis dessen Schuld eindeutig bewiesen ist«, weiche ich aus, mit einer Notiz in meinem Büchlein, dass ich der Familie Fisker auf den Zahn fühlen sollte.
Ich schreibe meiner Frau Enna eine Nachricht, dass es eine Mordermittlung auf Lun gibt. Ich verschweige ihr nichts, sie würde es sowieso erfahren. Außerdem ist sie mein Ruhepol. Wenn mir etwas auf dem Herzen liegt, ist sie der Seelsorger, dafür muss sie wissen, was mich beschäftigt. Den Namen des Opfers gebe ich ihr auch noch, ehe sie ihn unter der Hand erfährt.
Um die Verbreitung der Meldung zu steuern, und Irrläufer oder Verschwörungstheorien zu verhindern, weihen wir alle registrierten Bewohner ein – unabhängig von ihrem Aufenthalt hier oder vorübergehend auf dem Festland -, ohne das genaue Verletzungsmuster zu erwähnen. Über die Polizeidatenbank und das Bürgersystem vom Rathaus erreichen wir so nahezu die gesamte Gemeinde. Rechtzeitig zum Sonnenaufgang, den wir nicht sehen, denn tosende Sturmwolken und tobender Regen halten uns in Schach.
Mit der Eilmeldung fordern wir Hinweise, wonach wir uns auf einen langen Bearbeitungstag einstellen. Die Kaffeemaschine ist im Dauerbetrieb.
Bevor die ersten Hinweise eintrudeln, teilen wir vier uns auf, um die Häuser abzuklappern. Vor allem die Gegend um den Leuchtturm, das Hotel Fisker und die Anlegestellen nehmen wir unter die Lupe. Wegen der Evakuierung und der Mordmeldung gehört die Straße uns. Von Hauswand zu Hauswand hangeln wir uns, um die kräftigen Böen zu umgehen. Eigentlich mag ich es nicht, wenn wir uns bei dem Wetter draußen ungeschützt bewegen und dann auch noch vereinzeln, aber Eile ist geboten, denn unter den Halundern lauert ein perfider Halunke.
Bis zum Mittag sind wir das betroffene Gebiet abgelaufen, konnten aber nichts Essentielles in Erfahrung bringen. Natürlich gibt es ein paar Hinweise. Die sind allerdings meistens aus der Luft gegriffen. Nicht selten kommen dabei unglaubliche Geschichten zu Tage, die nichts mit dem Fall zu tun haben. Die meisten Häuser sind mit Holzplatten vernagelt, gänzlich unzugänglich. Selbst ein Flüchtender würde dort nicht unbemerkt hineingelangen.
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