Mitja Peter - Die Heimkehr der Jäger

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In den frühen 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwirft ein junger Physiker in den USA eine absolute Theorie, revolutionär nicht nur für sein Fach, sondern für die gesamte Naturwissenschaft, ein Werk, das Aussicht gibt, letzte Geheimnisse zu erhellen. Doch kurz bevor er diese «Weltformel» der Öffentlichkeit präsentieren kann, verschwindet er und gilt bald als verschollen. Im Jahr 1999 begibt sich seine Tochter in Europa auf die Suche nach ihm. In Paris findet sie Freunde, die ihr helfen. Ein Detektiv, der ihr von ihrer Mutter nachgeschickt wurde, spürt in London einen Mann auf, der den Verschollenen während der Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland kannte. Ein Roman, der Spannungselemente mit philosophischer Reflexion verbindet und eine utopische Dimension entfaltet.

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Impressum

Die Heimkehr der Jäger

Mitja Peter

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: 2013 Mitja Peter

Coverbild: 2013 Ingrid Becker

ISBN 978-3-8442-5510-2

“Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen

wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind,

unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“

Ludwig Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus, 6.52)

„I’ve searched the secret mists, I’ve climbed the highest peaks, caught the wild wind home to hear her soft voice speak, no matter where I roam, I will return to my English Rose, for no bonds can ever keep me from she.”

“English Rose”, The Jam

I.

Als Piero zum ersten Mal von einem verschollenen Wissenschaftler mit Namen John Marr hörte, ging er noch zur Schule und verträumte gerade eine Physikstunde in einer der hinteren Bankreihen. Für einige Minuten gelang es dem Lehrer die Aufmerksamkeit des Jungen zu fesseln, die zuvor nur dem Stift gegolten hatte, mit dem er am Rand des vor ihm aufgeschlagen liegenden Heftes winzige Landschaften zeichnete, in denen sich seine Phantasie aber wie in endlosen Weiten bewegte. Das Gesicht des Physiklehrers, eines in Pieros Erinnerung bedrückten, freudlosen Menschen, war für Augenblicke von Begeisterung erhellt, als er über Heisenberg und dessen Begriff der Unschärferelation sprach. Er erzählte, dass es Vermutungen gebe, ein gewisser John Marr habe die von Heisenberg und so vielen anderen Physikern gesuchte so genannte Weltformel, eine Verbindung der großen, bisher unvereinbaren Theorien der modernen Physik, schon vor langer Zeit entdeckt. Marr, in Deutschland geboren, sei 1946 als Siebzehnjähriger (etwa in meinem Alter, dachte Piero) nach England und dann später in die USA gekommen, wo aus Johannes Maar John Marr geworden sei. Das von ihm gefundene einheitliche Modell der Natur habe Marr 1966 in einem Vortrag an der New Yorker Columbia Universität veröffentlichen wollen, doch kurz vor dem Termin sei er verschwunden und bis heute unauffindbar geblieben, obgleich es Beweise gebe, dass er noch lebe. Einige seiner damaligen Studenten beschworen später, dass Marr ihnen die Formel und ihre Herleitung erläutert habe. Sie hätten sich aber keine Notizen dabei machen dürfen und könnten sich daher nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie zweifelten jedoch nicht daran, dass Marr eine herausragende Entdeckung gelungen war, möglicherweise sogar ein Vorstoß in eine Region vollkommener Klarheit. Nach diesem Exkurs fiel der Lehrer, der im Jahr darauf an einer zu spät entdeckten Krankheit starb, wieder in seinen gewohnten Trott zurück und Pieros Augen schweiften von ihm ab hinaus, wo die Dächer der Stadt in der Mittagssonne glänzten, während in gleichmäßigen Wellen eine matte Stimme, die kaum mehr jemand beachtete, über den trägen Köpfen der Schüler rollte.

Er begegnete Marie in einem Waschsalon in der Rue de la Santé. Dort verbrachte er manchmal die Abende und las in den Werken irgendeines antiken Philosophen, während die Maschine mit seiner Wäsche lief. Die Geräusche der Maschinen, das meist grelle Licht und die gleichmütige Geschäftigkeit beruhigten ihn. An diesem Frühsommerabend aber war Piero der einzige Kunde. Die Bedienstete des Salons, eine alte dunkelhäutige Frau, war an ihrem Pult neben der Kasse eingenickt. Eine Zeitschrift hing ihr lose in den Händen. Die Beleuchtung war, trotz der fortgeschrittenen Dämmerung, noch nicht eingeschaltet; statt der üblichen Lichtgrelle, strahlten nur die Lämpchen an den Armaturen der Waschanlagen; in dem Halbdunkel - von der Straße drang noch das Licht des nachglühenden Himmels herein - wirkten sie wie die Signale eines nächtlichen Flughafens. Nahe des Boulevard de Port–Royal war die Rue de la Santé nur auf einer Seite von einer Folge recht kleiner Häuser gesäumt. Gegenüber verlief eine mehr als zwei Meter hohe Mauer, die das dahinter liegende unbebaute Gelände zwar verbarg, aber sehr viel Aussicht auf den Himmel und die schier ewigen, stillen Veränderungen der Wolken ließ. Die offenbar brach liegende Fläche jenseits der Mauer erweckte den Eindruck eines noch für alles offenen, ungenutzten Raums, wie es ihn im Inneren der Stadt selten gab, doch vermutlich gehörte das Areal zu dem in einiger Distanz sichtbaren modernen Krankenhaus, und vielleicht würden dort schon bald weitere Gebäude entstehen. In der Nachbarschaft des Waschsalons befanden sich ein Bistro, mit dessen Wirt Piero gut bekannt war, ein Blumenladen, eine Wohnungsagentur, ein Lebensmittelgeschäft und ein Frisör, ein kleines Ensemble des Notwendigen also, wie es in Paris fast in jeder Straße anzutreffen ist, nur dass es in der hellen und zu allen Stunden ruhigen Rue de la Santé kaum möglich scheinen mochte, eine ausreichende Kundschaft zu finden. Piero saß oft vor dem Bistro an einem der drei Holz–Klapptische, die zu jeder Jahreszeit an der Hauswand lehnten und bei Bedarf auf dem schmalen Bürgersteig aufgestellt werden konnten. Die Fassade des Lokals zeigte nach Westen und war dank der fehlenden Bebauung der anderen Straßenseite dem freien Einfall des Sonnenlichts ausgesetzt, so dass man auch an schönen Wintertagen draußen sitzen konnte. Im Übrigen lagen an der Rue de la Santé ausschließlich Klinikgebäude, darunter auch ein Schwesternheim des Augustinerordens. Als Marie eintrat, sah Piero zuerst nur flüchtig von seinem Buch auf, um den Blick sogleich nochmals zu heben. Sie war von zierlicher, schlanker Statur und bewegte sich ein wenig wie ein Junge, und zwar wie ein Junge, der seine Unsicherheit hinter aufgesetzten Gesten der Stärke verbergen will, doch Piero entging auch nicht die wachsame, stolze Verlorenheit des kleinen Mädchens, das zum ersten Mal allein mit dem Zug verreist. Sie mochte kaum zwanzig Jahre alt sein. Sie trug Turnschuhe, weite Baumwoll-Hosen und darüber ein hellblaues Herrenhemd, ihr blondes Haar war kurz geschoren. Über ihren Schultern hing ein Wanderrucksack. Sie trat an das Pult und beugte sich über die schlafende Frau, "Excusez Madame!", sie wiederholte etwas lauter "Excusez Madame!" Hilfesuchend blickte sie hinüber zu Piero: "Kann ich vielleicht trotzdem meine Wäsche schon einlegen." Piero hielt sie dem Akzent nach für eine Amerikanerin. Er sagte: "Nein, Du musst bei Ihr eine Marke kaufen. - "Na gut, ich habe es nicht eilig. Sie wird wohl bald aufwachen." Sie setzte sich zu ihm an den roten Plastiktisch und zog aus einer Einkaufstüte eine Wassermelone hervor, die sie mit einem Taschenmesser anschnitt. Sie sagte, die Melone werde ihr jetzt gut tun, denn sie habe soeben allein zu Abend gegessen und dabei eine ganze Flasche Wein getrunken. Das kurze Haar stand ihr wundervoll, denn es lenkte den Blick auf ihren schönen, beflaumten Nacken und die zierlichen Ohren. Wie selbstverständlich, als seien sie längst miteinander vertraut, reichte sie ihm eine Scheibe Melone über den Tisch. Er dankte ihr und biss vorsichtig hinein. Sie schnitt eine weitere Scheibe ab und schaute ihn, an dem Fruchtfleisch nagend, über den Rand des grünen Halbmonds hinweg an. Mit vollem Mund zog sie eine kindliche Grimasse. Als er verlegen einige Kerne aus dem Mund in seine hohle Hand träufeln ließ, reichte sie ihm ein Papiertaschentuch. Während sie weiter aßen, erfuhr er, dass sie aus New York stammte und seit einigen Wochen in Europa umherreiste, um etwas über ihren Vater herauszufinden, der seit bald fünfunddreißig Jahren als verschollen galt. Der einzige Hinweis dafür, dass er noch leben könnte, seien sporadische Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Aufsätzen in vorwiegend schweizerischen und britischen Fachzeitschriften, für die manche ihn als Urheber annähmen. Und außerdem sei sie selbst der Beweis, dass er zumindest vor gut zwanzig Jahren noch gelebt habe. Als sie den Namen ihres Vaters nannte, sagte Piero dieser zunächst nichts; erst am nächsten Morgen, als er gerade zu Hause eine Leinwand aufspannte, fiel ihm ein, dass im Schulunterricht irgendwann von einem John Marr die Rede gewesen war.

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