Piero folgte ihr. "Findest Du nicht, dass er ein wenig zu arrogant ist. Er scheint sich wunderbar über uns zu amüsieren. Und dann noch dieses mickrige Musketierbärtchen und das Gel im Haar!" Marie lehnte mit verschränkten Armen in einem Winkel des Aufzugs, der sie hinauf zur Dachterrasse des Riesenquaders trug. "Mir war er nicht unsympathisch", sagte Piero, "und er scheint Dir wirklich helfen zu wollen." – Doch Marie schnaubte verächtlich und starrte düster vor sich hin. Als sich die Tür des Aufzugs öffnete, ließ sie Piero ohne ein weiteres Wort stehen.
Die Nachmittagsluft war mild. Selbst in dieser frei ausgesetzten Höhe blies der Wind sanft, strich warm um die Köpfe und hatte sich auf seinem Weg über Land noch Meeresduft bewahrt. Bald tauchte Cawthra wieder auf und lehnte sich neben Marie an eine mit einem hohen Gitterzaun bewehrte Brüstung, über die hinweg sie auf die Stadt sehen konnten. "Beantworten Sie mir noch ein paar Fragen", sagte er, "danach verschwinde ich, wenn Sie mögen, für immer." Ein kurzes Lachen entfuhr ihr.
"Sie sind hartnäckig, nicht wahr. Verstehe schon, rein beruflich." Cawthra wunderte sich über die Wandlung in ihrem Gesicht und fragte sich, warum sie so plötzlich ihre abweisende Haltung fallen zu lassen schien. Er neigte dazu, es allein seinem Charme zuzuschreiben. Sie sah ihn an und sagte: "Als meine Mutter ihren Widerstand aufgegeben hatte, ermüdet von meiner Entschlossenheit, Vater zu suchen, gab sie mir ein Tagebuch, das er ihr einmal geschenkt haben soll. Er hat es mit 22 Jahren während einer Europareise geschrieben, die er in Begleitung eines Freundes unternahm. Mutter sagte mir, sie habe nie eine Zeile darin gelesen, aber vielleicht werde es mir ja helfen und ihn mir näher bringen. Es erschien mir seltsam, dass er ihr dieses Buch überlassen hatte. Sie hielt es für aussichtslos, nach ihm zu suchen. Ich schlug das Heft auf, ein schwarzes Schulheft mit karierten Blättern, und mein erster Gedanke war, dass sich darin ein Hinweis auf den Aufenthaltsort meines Vaters verbergen könnte. Ich setzte mich in den Lesesessel in meinem Zimmer, las es in einem Zug durch und beschloss dabei, seine Reise, soweit es nur möglich war, nachzuahmen. Ich wollte die gleichen Orte wie er aufsuchen, in den gleichen Unterkünften übernachten, sofern es sie noch gab, und mir mehr Zeit nehmen, als ihm damals zur Verfügung stand, um ihm sein Geheimnis zu entlocken. Auf dieser Reise befinde ich mich noch. Ich war in der Schweiz, in Irland, Spanien, Portugal und Südfrankreich. Von dort, wie Ihnen ja bekannt ist, kam ich vor drei Wochen nach Paris. Glücklicherweise lernte ich dann Piero kennen, der mich bei zwei Freundinnen von ihm unterbrachte. Es gefällt mir dort so gut, dass ich Paris nicht mehr so bald verlassen möchte. Ich wünschte, ich könnte meinen Vater in einer der Straßen dort unten finden."
- "Sie haben sich aber nicht genau an seine Route gehalten", sagte Cawthra, "er fuhr nämlich zunächst nach Deutschland."
- "Woher wissen Sie das?" rief Marie. Sie war erschrocken; der ängstliche Ausdruck ihrer Augen entging ihm nicht.
"Ich habe mit dem Freund ihres Vaters gesprochen, der ihn auf der Reise damals begleitet hat", sagte Cawthra, "er wohnt in London."
- "Aber Mutter sagte mir doch, sie wisse nichts über ihn."
"Ich habe es auch nicht von ihrer Mutter erfahren. Bevor wir solch einen Fall angehen, erstellt eine eigens dafür zuständige Abteilung unserer Agentur eine möglichst lückenlose Biographie der gesuchten Person bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie verschwand. Es war nicht schwierig auf Mr. Goldberg zu stoßen. Ihr Vater und er waren schon in Deutschland Freunde, während der Zeit der Diktatur. Irgendwann während des Krieges verloren sie sich aus den Augen, denn Goldberg ist Jude und wurde deportiert. Er überlebte. Ende der vierziger Jahre trafen sie sich zufällig in Cambridge wieder. Sie saßen im gleichen Seminar. Als der Dozent in der ersten Sitzung die Teilnehmer aufrief, fiel irgendwann der Name Goldberg. Ihr Vater saß einige Bankreihen hinter ihm und muss wohl während der weiteren Namensverlesung auf Goldbergs Hinterkopf gestarrt haben, denn als schließlich der Name John Marr und das bestätigende "Ja" durch den Raum schallten, drehte sich Goldberg, der ja nur einen Johannes Maar gekannt hatte, unwillkürlich um, und ihre Blicke trafen sich. Es ist meist leicht, die besten Collegefreunde einer Zielperson herauszufinden", schloss Cawthra seinen Bericht und es klang nicht arrogant, sondern besänftigend, als er dann sagte: "Sie haben gar nicht daran gedacht, Goldberg zu besuchen. Sie konnten es nicht einmal, denn im Tagebuch steht wohl nur der Vorname Daniel."
- "Nein, er nennt ihn Dan oder auch Ben", sagte Marie. Mit einer abrupten Bewegung entfernte sie sich einige Schritte von ihm. Er blieb an die Brüstung gelehnt stehen und sah ihr zu, wie sie umherging. Es war, als wolle sie mit jeder Geste ihre Unabhängigkeit beweisen. Ihre kindliche Schroffheit amüsierte ihn. Sie war von einer Aura des Unbehausten umgeben, die sich tief aus ihrem Inneren nährte, doch zugleich auch nur ein Habitus sein mochte, den sie vielleicht schon vor Jahren am Ausgang der Kindheit angenommen hatte. Er folgte ihr nicht und wartete, zündete sich eine Zigarette an. Es war wie ein Spiel und Cawthra war sicher, dass er es gewinnen würde. Tatsächlich schlenderte sie nach einer Weile zu ihm zurück, und er bemerkte die Verunsicherung im Blick ihrer verschatteten Augen.
Piero, der von einer anderen Seite aus in die Tiefe geschaut hatte, schloss sich ihnen wieder an. Ein Gespräch über Sehenswürdigkeiten in Paris, über besuchenswerte Lokale und neueste Filme entwickelte sich. Gemeinsam verließen sie die Grande Arche. Unter der Wolke hatten die Vorbereitungen für ein Rockkonzert begonnen, das am Abend des folgenden Tages stattfinden sollte. Sie gingen die Freitreppe hinab und über den Platz von La Defense auf das jetzt still stehende Karussell zu. Von dort blickten sie noch einmal zurück. Der monolithische Bau wäre würdig gewesen ein Tor zu einer anderen Welt zu sein. Trotz seiner vollendeten geometrischen Klarheit verwies er auf ein Geheimnis, kündete von einer unsagbaren Hoffnung. Es war, als wolle diese Architektur mit revolutionärer Unbedingtheit ihre Utopie gegen alle realen Widerstände durchsetzen.
Sie blieben neben dem Karussell stehen und Cawthra sagte plötzlich leichthin: - "Ich glaube, dass er in Italien lebt."
Marie schwieg und starrte auf die grauen Steinplatten unter ihren Füßen. - "Bloß eine Intuition", sagte Cawthra, "ich werde morgen noch einmal nach London fahren und mit Goldberg sprechen. -
Möchten Sie mitkommen?" fügte er in möglichst beiläufigem Ton hinzu. - Marie zögerte: "Warum... " - sie blickte noch immer zu Boden - "Ich dachte dies sei nicht ihr Auftrag."
"Sie wollen also ihren Vater weiterhin allein suchen? Sie glauben ihn zu finden, indem sie Europa kreuz und quer bereisen und dabei in einem alten Tagebuch lesen?"
Piero nickte Marie aufmunternd zu, doch sie sah ihn überhaupt nicht an und ging rasch davon in Richtung einer Metrostation. Als die beiden sie wieder eingeholt hatten, hob sie mit einem Ruck wie in plötzlicher Entschlossenheit den Kopf und sagte: "Nein! Sprechen Sie allein mit ihm. Ich kann Sie ja doch nicht davon abhalten. Hauptsache, Sie verfolgen mich nicht mehr."
- "Wir könnten uns dann spätestens Samstag wieder treffen", sagte Cawthra.
"Ja, kommen Sie zu Carla", doch als er sofort zustimmend nickte, rief sie: "Ach, Sie kennen ja gar nicht die Adresse!" Cawthra verzog Augenbrauen, Wangen und Mund zu einer Grimasse. Aus Marie brach prustend ein schallendes Lachen hervor, was ihr seit langem nicht mehr widerfahren war.
"Nehmen Sie es mir nicht übel, wir sind nun mal eine der besten Agenturen Amerikas und außerdem - nennen Sie mich doch Richard, Sie auch Piero. Bis zum Samstag. Ich rufe an", - und er war die Treppe zur Untergrundbahn schon halb hinab gesprungen, da drehte er sich nochmals um, winkte und lief dann erst tiefer hinab.
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