- "Ich blieb einige Tage, " sagte Marie, "in der alten Festung befindet sich eine Jugendherberge, gleich nebenan ist das Museum. Dort saß ein Mann an der Kasse, der so alt wie das Jahrhundert sein mochte, und er hatte es nirgendwo sonst verbracht als in diesem äußersten Winkel Europas, dem Meer, dem Wind und dem Licht ausgesetzt. Vaters Buch, warte Carla, warte, Du wirst gleich erfahren, warum ich so sicher darin bin. Vaters Buch lag an der Kasse aus. Ich nahm ein Exemplar, blätterte darin und es entspann sich ein Gespräch mit dem Alten. Sein Englisch war erstaunlich gut. Von sich aus erwähnte er den Namen des Autors und sagte, nicht ohne Stolz, er sei mit ihm befreundet gewesen. Jener habe einige Jahre in Sagres gelebt, in einer Wohnung beim Leuchtturm, sei von Zeit zu Zeit nach Lissabon, Porto und Coimbra gefahren, um in den Bibliotheken dort zu arbeiten und habe sich sehr um den Ausbau des damals noch völlig bedeutungslosen Museums bemüht.
Da ich der einzige Besucher war, schloss der Alte die Tür, und wir setzten uns in einen Innenhof unter ein Orangenbäumchen.
'Mit Heinrich habe es begonnen,' sagte er, nachdem wir eine Weile gemeinsam der Stille des Hofes, in der nichts als das Rieseln eines kleinen Brunnens erklang, gelauscht hatten, 'der Drang nach Erkenntnis, diese abendländische Krankheit habe nach den Menschen unaufhaltsam die Erde selbst angegriffen.' - Die Akademie sollte die Eroberung der unbekannten Gegenden, für deren Existenz und Reichtum es inzwischen genügend Hinweise gab, vorbereiten. Von weither kamen die Wissenschaftler jener Zeit nach Sagres. Astronomen, Mathematiker. Philosophen, Geographen, Kartographen, Kapitäne und Schiffsbauer versammelten sich, um Heinrichs Vision zu dienen. Damals sei die Erde noch groß gewesen und die Wächter an den Grenzen der Königreiche hätten nicht gewusst, was hinter den unzugänglichen schneebedeckten Bergen lag. Wie weit seien allein die Strecken gewesen, die die Gelehrten zurückzulegen hatten, um bis nach Sagres zu kommen. Aus Paris, Köln, Florenz, Genua, Krakau, wo immer sie herstammten, ihre Anreise dauerte Wochen. Von Heinrichs Palast, dem Observatorium, den Forschungswerkstätten und Schiffswerften ist nichts mehr erhalten geblieben als eine aus Steinen gelegte Windrose. Zwischen deren Radien war ich am Morgen lange umhergegangen. Er habe mich dabei beobachtet, sagte der Museumswärter. Ich fragte ihn nach Marr, ob er wisse, wo dieser inzwischen lebe. Er verneinte und fuhr fort zu erzählen: Marr habe oft zu ihm gesagt, er wäre gern einer von Heinrichs Bande gewesen, Jacome de Mallorca etwa, der den Wal entdeckte. Den Wal, fragte ich verwundert. Jacome, dessen Vater den berühmten Katalanischen Atlas für König Karl V. von Frankreich angefertigt habe, sei eines Tages an einem der weiten Strände nördlich des Kaps spazieren gegangen, als er in der Ferne einen grauen Haufen oder Sandhügel erblickte, der sich zu bewegen schien. Ihn packte ein Grauen, aber seine Neugier war stärker und so näherte er sich vorsichtig. Was er dann vor sich sah, raubte ihm den Atem, ein gewaltiger Fisch, wie er niemals einen gesehen hatte, lag dort am Strand. Ja, er hatte wohl Seeleute von solchen Ungetümen berichten hören, es aber als Fabeln abgetan. Was da lag, war zweifellos noch lebendig. Es atmete, irgendwo an diesem Körper prustete es von entweichender Luft. Mehrere Male umkreiste Jacome das Tier und wollte sich gerade etwas näher heranwagen, als sich abrupt die Schwanzflosse erhob und klatschend auf den nassen Sand schlug. Da rannte Jacome, bis er keuchend in der Akademie ankam, um den anderen seinen Fund zu melden. Alles brach sofort auf. Sie ließen ihre Instrumente, Messgeräte, Schreibfedern, Karten, Manuskripte, womit sie auch immer beschäftigt waren, liegen und folgten Jacome. Von den Fischerhütten in der Nähe der Festung, wo man die wunderliche Prozession der Gelehrten, die das Plateau überquerte, beobachtete, schlossen sich ebenfalls noch Neugierige an. Die Kinder tollten in dichter Schar vor ihnen her. Heinrich, der beim Bau der Sternwarte gewesen war, blieb gelassen, machte dennoch aber einige seiner Soldaten zur Begleitung mobil. Als sich die Gesellschaft dann auf dem ebenen, winddurchmessenen Strand dem Ungeheuer näherte, bemerkte Jacome, dass es nun reglos dazuliegen schien. Das blasende Geräusch war verstummt. Der Wal war tot. Die Soldaten stießen den Kadaver mit ihren langen Lanzen an. Heinrich und Abraham Cresques, Jacomes Vater, wagten sich langsam bis zum Kopf des Fisches vor (sie wussten nicht, dass es streng genommen ja kein Fisch war).
Oberhalb des schiefen, im aufgewühlten Sand steckenden Mauls entdeckten sie ein Auge. Es glotzte, und Heinrich konnte sich lange nicht von seinem Anblick lösen. Es war ihm, als wolle ihm der Wal etwas mitteilen, doch er verstand nicht. Irritiert, ja voll Scham wandte er sich Abraham Cresques zu, der erschrak, als er Heinrichs bleiches Gesicht sah. Besorgt erkundigte er sich nach dem Befinden des Prinzen, verwies auf den nun stärker werdenden Gestank des Tieres als mögliche Ursache einer Übelkeit. In der Menge, die noch immer in einigem Abstand wartete, war das anfängliche Raunen einem unnatürlichen Schweigen gewichen; selbst die Kinder hockten im Sand und starrten mit ernsten Gesichtern auf den Koloss. Der Wind brauste und die Kämme der tosenden Brandung glänzten im Spätnachmittagslicht, weit entfernt von dem toten Tier. Plötzlich sprang einer von Heinrichs Kapitänen vor, bekannt als gottesfürchtiger Mann, der schon häufig die Pläne des Infanten als sündhaft und gotteslästerlich abgelehnt hatte und schrie etwas von einem Zeichen, alle seien nun gewarnt, was sie da draußen auf See erwarte. Er sei gewiss, dass es frevelhaft sei, zu weit hinaus zu fahren. Möglicherweise gebe es noch mehr bewohnbare Erde, doch dies hier sei ein Zeichen, sich zu bescheiden; die Wahrheit, sie sei nicht in fernen Ländern zu finden."
Carla sagte: "Er hat es aber ganz schön ausgeschmückt, der alte Mann." - "Er zitierte mir fast wörtlich eine Passage aus Vaters Buch, die ich seither immer wieder gelesen habe," sagte Marie, "Vater hat da wohl selbst eine alte Quelle, die er in Coimbra in einem Archiv entdeckt hatte, in eine anschauliche Geschichte verwandelt. Die Quelle berichtet von einem gestrandeten Wal bei Sagres zur Zeit von Heinrichs Regierung in der Provinz Algarve. Plötzlich aber unterbrach der Alte seine Erzählung und fragte mich, ob ich Marrs Tochter sei. Ich sah ihn an und nickte, und er sagte, der Klang meiner Stimme habe ihm das verraten. Da bemerkte ich erst, dass er blind war. Er hatte bisher eine Sonnenbrille getragen und sich wie ein Sehender bewegt. Nun setzte er die Brille ab. Mein Vater sei der ungewöhnlichste Mann gewesen, den er je kennen gelernt habe, aber auch der einsamste, sagte er. Er wünsche ihm, dass er von mir gefunden werde, fügte er noch hinzu, dann stand er auf und ging zurück in sein kleines Museum. Ich glaube, er wusste, warum Vater dieses Leben eines Verschollenen führt."
Carla blickte nach draußen und rief: "Da ist er ja!" - Marie sah ebenfalls hinaus und erkannte Piero, der auf der anderen Seite der Straße unter den Platanen über Pfützen springend entlang rannte.
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