Piero setzte sich wieder und wartete. Das Sonnenlicht, gebrochen vom Laub der Platanen, erwärmte einzelne Flecken eines verlassenen Sandkastens, in dem die am Vortag gebrauchten Spielsachen bis zur Rückkehr der kleinen Göttergesellschaft in magischer Starre gleichmütig ihr Los trugen. Nach und nach vertrieben die Sonnenstrahlen den grauen Schleier der Frühe aus dem Garten. Das bisher ferne Brausen des Verkehrs rückte mit zunehmendem Licht näher, wurde aufdringlich und lärmend. Die schwere Haustür fiel wieder ins Schloss. Piero wagte nicht, den Kopf zu drehen. Er lauschte. Gleich würde er das Rasseln hören, das ihre Schritte in dem feinen Kies erzeugten. Aber da fegte schon ihre Stimme wie eine helle Fanfare die Leere seines Kopfes, in der er panisch das rechte Wort suchte, beiseite. Ihrem Gruß folgte ein ungeduldiges "Was willst Du?".
Sie saß neben ihm auf der vorderen Kante der Bank, bereit zum Aufspringen, ihm zugewandt und ihn fest ansehend. Er schwieg, er wusste es nicht.
-"Soll ich Max heute Nachmittag abholen", fragte er zögernd, auch um überhaupt etwas zu sagen und dachte dabei: "Ich weiß es doch, ich weiß es doch, was ich will. Nur aufwachen und Eure schlafenden Gesichter betrachten."
- "Das würde ihn sehr freuen", sagte Irene, "hör mal, lassen wir uns nicht täuschen von unserer Zeit in Sizilien. Du hast eigentlich Recht - wir beide, das ginge nicht gut."
- "Weißt du, mir scheint es, als würde etwas, was sein soll, nicht geschehen", sagte Piero. Er sah nun etwas Zärtlichkeit in ihrem vorher so kalten Blick glänzen.
- "Wie geht die Arbeit voran? Du hast mir doch von dieser Galerie erzählt, die an Deinen Sachen interessiert sei."
- "Sie haben fünf Bilder von mir angenommen. Sie hängen seit einigen Tagen. Es ist im Marais. Die Galerie Zéphyr."
- "Oh! Das passt gut zu Deinem Stil, finde ich. - Hat Dir das Alleinsein geholfen. Bist Du dem näher gekommen, was Du Dir vorstellst?"
- "Ich weiß es nicht." - "Und Marie", fragte sie.
- "Marie kann morgen schon auf und davon sein. Ich mag sie und will ihr ein wenig bei der Suche nach ihrem Vater helfen, das ist alles."
Plötzlich war sie verlegen. Piero saß vorgeneigt, seine Arme ruhten auf den Beinen, in einer Hand spielte er mit Kieseln, die er vom Boden aufgelesen hatte. Sie sah ihn jetzt nicht mehr an. Ihre Finger trommelten auf der Rückenlehne der Bank. Sie wunderte sich selbst über ihre Neugierde und ihre Unruhe. Sie ärgerte sich, dass er sie verunsichert hatte. Eifersucht ist es nicht, dachte sie. Wie soll ich dieses Gefühl aber nennen.
- "Ja, vielleicht habe ich mich in sie verliebt", sagte Piero, "aber was bedeutet das schon. Ich verliebe mich leicht und mehrmals täglich."
Sie lachte und strich ihm mit den Fingern über Stirn und Nase.
- "Von wie vielen Sizilianerinnen träumst Du denn noch?"
- "Du verstehst mich nicht", sagte Piero.
- "Doch, ich verstehe Dich sehr gut", erwiderte Irene und stand auf, "ich habe leider kaum Zeit. Die Universität wartet. Holst Du dann Max, ja? Bring' ihn zu Carla. Und rufe mal an kommende Woche. Wir könnten abends ausgehen, vielleicht ins Kino – oder was gibt es an Konzerten?"
Piero nickte und winkte ihr zu, da sie sich im Reden schon einige Schritte entfernt hatte. Als sie die Allee entlang zum Tor lief, bereute sie es, ihm eine Verabredung vorgeschlagen zu haben.
"Es wäre wirklich besser, wir würden uns nicht mehr sehen", sagte sie laut, schloss das Tor und warf einen Blick zurück auf die schmale Gestalt vor der nun völlig vom Sonnenlicht angestrahlten Fassade.
In der Universität fand sie einen Stapel Bücher auf ihrem Tisch vor. Ein kleiner Zettel lag obenauf. "Könnte einen Blick wert sein. Bastide." stand darauf geschrieben. Irene wischte den Zettel beiseite, schlug eines der Bücher auf, las kurz darin mit an die Schläfe gelegter Faust und ließ ihre geballte Hand dann auf den Stapel knallen. Die anderen Studenten in der Bibliothek drehten sich nach ihr um, glotzten verwirrt und wandten sich dann wieder ihren Büchern oder Manuskripten zu, gleichgültig wie Kühe, die ihre Mäuler wieder ins Gras hinab senken. Irene hätte laut schreien mögen. Stattdessen nahm sie einen Ordner aus ihrer Tasche und blätterte darin, hier und da etwas mit Bleistift anstreichend. Die Wissenschaft will immer Lösungen. Ich kann ihr aber nur mit Zweifeln und Fragen dienen, dachte sie einmal und notierte es am Seitenrand. Der Morgen verging. Am Mittag ließ sie sich von zwei Mitstudenten überreden, in der Mensa zu essen. Sie willigte ein, weil sie heute länger in der Bibliothek arbeiten wollte, als sie ursprünglich geplant hatte - denn Piero holte ja nun Max von der Krippe ab.
In der Mensa saßen sie zufällig mit einigen Naturwissenschaftlern an einem Tisch, unter denen eine angeregte Diskussion im Gange war. Während des Essens hörte Irene, ohne von ihrem Teller aufzublicken, dem Gespräch zu. Auf ihre beiden Begleiter achtete sie überhaupt nicht mehr, gab nur einmal fast widerstrebend Auskunft, nachdem sie mehrmals angesprochen worden war. Dagegen lag ihr hin und wieder etwas auf der Zunge, was sie zu der Diskussion nebenan gerne beigetragen hätte. Sie wagte es aber nicht. So wie sie verstand, hatte eine von namhaften Wissenschaftlern unterzeichnete Resolution die Debatte ausgelöst. Die Unterzeichner begrüßten die Fortschritte in der Gentechnik und setzten sich für weitere Forschungen auf diesem Gebiet ein. Ein großer, sehr aufrecht sitzender Student, der eine kleine randlose Brille trug, sagte, als sich Irene mit ihrem Tablett gerade gesetzt hatte: "Hat die Vernunft jemals ein moralisches Problem gelöst? Zweite Frage: Hat sie sich nicht höchstens darüber hinweg gesetzt?"
- "Der Begriff Vernunft müsste zunächst definiert werden", warf ein Mädchen ein, das zugleich Irene grüßend zulächelte.
- "Befürworter und Gegner der Technik haben unterschiedliche Auffassungen, was vernünftig ist."
- "Vieles in der Wissenschaft scheint mir ausschließlich irrational fundiert zu sein, "fügte ein dritter Student hinzu, der gerade beim Schälen eines Apfels war.
- "Wann kommst Du wieder mal zum Tennis?" fragte das Mädchen, mit dem Irene den Gruß getauscht hatte.
- "Mit dem Kleinen ist das schwierig. Ich hätte dann ein schlechtes Gewissen, da ich sowieso so wenig Zeit für ihn habe", sagte Irene. Sie wunderte sich über das Angebot, denn zum letzten Mal hatten sie vor vielleicht drei Jahren miteinander Tennis gespielt, und nun war es so, als habe dieser lange Zeitraum überhaupt keine Bedeutung.
"Jedenfalls sind diejenigen, die sich etwas auf ihre Rationalität einbilden, seien es Politiker, Manager oder Wissenschaftler, häufig unberechenbar wie Kinder, und im Gegensatz zu diesen auch dumm, arrogant und gewissenlos", sagte der Student mit der randlosen Brille. Sein Gesicht war von Narben übersät, die Haut hell und fleckig.
Irene war von seinem selbstbewussten Reden beeindruckt.
Ein anderer griff nun offenbar einen früheren Punkt der Diskussion wieder auf. Während sich noch Widerspruch gegen die letzte Behauptung regte, sagte er: "Nicht nur die menschliche Natur, alle Natur ist einzigartig und heilig."
- "Warum ist sie heilig", fragte Irenes Bekannte.
- "Sie ist heilig, weil sie ein Geheimnis ist."
- "Womit wir uns abfinden sollten," sagte der Narbengesichtige, der offenbar gar kein Naturwissenschaftler war, "wir wundern uns über das Dasein, wir staunen über seine Schönheiten, wir selbst sind Teil dieses Ungeheuren. Was fassbar ist, ist nicht mehr schön. Und die Natur ist mächtiger. Ich stelle mir manchmal ein Forschungslabor in Kalifornien vor. Dort wird eine große Entdeckung gemacht, eine einmalige Sache. Alle sind euphorisch. Und im gleichen Augenblick, als sie ihr "Heureka" schreien, bebt die Erde, ein großes Beben, in wenigen Sekunden sind von dem Labor nur noch Trümmer übrig."
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