Marie war mit Carla am Eingang eines großen Parks verabredet.
Sie saß auf einem Eisenstuhl neben einem Imbiss-Pavillon, ließ den Stuhl etwas kippen, so dass nur noch ihre Fußspitzen den Boden berührten und aß von einem Crêpe, der mit einer Ecke in einer Papiertüte steckte, die sie mit beiden Händen hielt. Vor ihr auf dem grün lackierten kleinen Tisch stand ein Plastikbecher mit Kaffee. Fast verlor sie das Gleichgewicht, als plötzlich etwas vor ihr Gesicht schnellte. Carla beugte sich lachend von hinten über sie und schloss ein Jo-Jo nach zwei, drei flinken Luftfiguren wieder in ihre Hand.
- "Meine Güte! Du hast mich erschreckt“, rief Marie. – "Wollen wir gleich weiter, oder magst Du einen Kaffee?" und sie rückte dicht an das Eisentischchen heran, während Carla sich rittlings auf einen freien Stuhl setzte und gleich auch wieder das Jo-Jo auf und ab schleuderte. Nach einigen Wirbeln steckte sie es schließlich in eine Tasche ihrer bunten, mit aufgenähten Flicken verzierten Jacke.
- "Wie Du siehst, komme ich von der Arbeit", sagte Carla und deutete auf die Rollschuhe, die sie trug. - "Was ist denn das", fragte Marie.
- "Du meinst die Flügel - sozusagen das Firmenzeichen. Die Agentur heißt 'Hermes'. Alle Boten tragen diese Flügel an den Skates." Sie zog ihren Rucksack ab, auf dem ebenfalls zwei goldene Engelsflügel prangten. - "Ich habe einen Frisbee dabei", sagte sie. - "Was hält uns dann noch hier", rief Marie, trank den Kaffee aus und warf den Becher mit einem gut gezielten Wurf in einen Müllbehälter.
Kurz hinter dem Eingang des Parks versammelten sich wie an jedem Tag viele Straßenartisten und Musikanten, um sich spielerisch ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Klarinetten versprühten gute Laune, zur Gitarre wurden die altbekannten, hoffnungsvollen oder protestierenden Lieder gesungen, die Marie nach einer Weile des Zuhörens jedoch immer deprimierten. Zwei schwarze Jungen, die nichts weiter als Shorts trugen, bemalten sich gegenseitig mit Leuchtfarben; ein Mädchen schluckte Feuer, ein anderes stand mit Schlittschuhen auf einem schmelzenden Eisblock und spielte Violine; ein Mann mit grün gefärbten Haaren schien auf einem Einrad jeden Augenblick am Rande eines Sturzes zu sein, fuhr aber dennoch immer weiter schaukelnd und mit den Armen rudernd seine Runden; jemand jonglierte mit Kugeln, während seine Partnerin neben ihm auf dem Boden hockte und eine Bongotrommel schlug, dabei ihren Kopf wiegend wie ein Elefant. Ein glatzköpfiger, magerer Mensch hämmerte mit dem Stumpf eines Besenstiels auf eine Schlagzeugapparatur ein, die aus dem Deckel eines Plastikmülleimers, einem Stück Autoreifen, einer halben ausgehöhlten Melonenschale und einer gesprungenen Blechdose bestand. Zwischenhinein johlte und schrie er einige schräge Töne oder Wortfetzen oder brüllte die Vorübergehenden an, beschimpfte sie in seiner hellen Trunkenheit.
Sie schauten ein wenig den Darbietungen zu und Carla erzählte Marie von ihren eigenen Erfahrungen als Straßenartistin, denn zeitweise war sie hier gemeinsam mit ihrem älteren Bruder aufgetreten - sie selbst war damals fast noch ein Kind. Ihre Pantomime war ein großer Erfolg gewesen. Ihr Bruder hatte sich als würdiger, älterer Herr verkleidet - mit angeklebtem Schnurrbart und im Frack; und sie war als das Mädchen, das sie war, erschienen. Jacques hatte mit einer Hand einen rosa Luftballon festgehalten, jedoch ohne dass es die Zuschauer bemerkten, denn er tat vielmehr so, als lasse sich der Ballon nicht von der Stelle bewegen, ja als ginge von ihm eine ständige Kraft aus - auch das starre Ruhen des Ballons war nur Schein, denn einmal wurde Jacques Arm in die Höhe gerissen, und daraufhin mühte er sich konzentriert und angestrengt, den Ballon wieder in die alte Position zurückzudrücken. Nachdem Jacques eine Weile so agiert hatte, rief er verschlagen grinsend Carla herbei und ließ sie den Ballon mit beiden Händen fassen. Dem Publikum bedeutete er, dass er die Kleine schon in den Wolken schweben sehe. Doch Carla schob den Ballon sogleich mühelos und seiner Natur gemäß hin und her und auf und ab, er tanzte auf ihrer Handfläche und schwebte sacht in die Höhe. Sobald sie aber Jacques den Ballon zurückgestupst hatte, gab dieser wieder die größte Anstrengung vor, das störrische Ding auch nur minimal zu bewegen, eine Illusion, die ihm vollkommen und zur Verblüffung der Zuschauer gelungen war. Beim anschließenden Applaus holte er Carla noch einmal herbei, wies mit pathetischer Geste auf sie und revanchierte sich jetzt, nachdem er zuvor von ihrer kindlichen Selbstverständlichkeit angeführt worden war, indem er ihr eine Hand auf den Bauch und eine in den Nacken legte, um sie wie eine Marionette zu einem mechanischen Bückling zu nötigen.
Sie waren weiter gegangen. Carla hatte ihre Rollschuhe im Rucksack verstaut und lief barfuss. Im Inneren des Parks kamen sie zu einer großen Rasenfläche.
Carla warf den Frisbee ziellos in den offenen Raum. Über dem dichten Laubkranz der Bäume, die die Wiese begrenzten, erhob sich im Umkreis die Stadt, die ferneren Bauwerke entrückt ins Wesenlose wie pastellene Theaterkulissen. Die Scheibe flog zwischen ihnen hin und her; die Umgebung erstarrte. Der Tag hauchte seine Spannung aus und schaute nur noch mit den trägen Augen eines satten Raubtiers ihrem Spiel zu. Rundum genossen die Stadtbewohner in den Anlagen die Spätnachmittagsstunde, die ihnen allen ihre im Lärmen des Tages verlorene Würde und Freiheit zurückzugeben schien. Carla fing die Scheibe mit lockerer Hand ab und ließ sie sogleich wieder aus einer Bewegung des Unterarmes davon sausen. Der weiße Kreis durchschnitt die Luft, die goldene Aufschrift blinkte im Sonnenlicht auf.
Marie schnappte zu, brachte einen flachen Wurf an; Carla rannte, ergriff noch knapp über dem Boden den Frisbee, hob triumphierend den Arm. Das gleichmäßige Schweben der Scheibe ließ Maries Gedanken in den Rhythmus der Bewegungen, das Verfolgen der Flugbahnen hineingleiten. Sie sprinteten, wechselten die Positionen, fingen im Sprung, versuchten Trickwürfe, bei denen der Frisbee abrupt stieg oder fiel, so dass der überraschte Fänger manchmal nur noch flink den Kopf einziehen konnte, um nicht getroffen zu werden. Gebannt von der Harmonie des Spiels bemerkten sie nicht, dass ein Gewitter heraufzog. Die Wolken quollen zu einem Gebirge empor, das seinen Schatten über den Garten legte. Während das düstere Grau des Himmels das Grün der mächtigen Baumkronen vertiefte, drangen vom Horizont her die Strahlen der tief stehenden Sonne unter die Wolkendecke und umgaben die Dinge mit einem bernsteinfarbenen Glühen.
Alle flohen vor dem nahen Unwetter. Sportgeräte wurden eingesammelt, Kinder hastig angekleidet, Bücher, Schreibhefte, Zeitschriften und Mappen zugeschlagen, Decken eingerollt, Schirme aufgespannt, dies alles begleitet von ängstlichen Blicken nach dem Himmel. Noch regnete es nicht.
- "Schau nur", rief Carla und beobachtete mit leuchtenden Augen die Veränderungen am Himmel und auf der Erde. Sie lachte über die Heftigkeit einer Windböe, die allerlei Papier und Abfälle über den Rasen fegte.
In der Nähe saß eine junge Frau unter einer einsam stehenden Eiche und stillte scheinbar unbesorgt ihr Kind. Als plötzlich im Einklang mit dem Wind, der bald zum Sturm anschwoll, der Regen herabprasste, zog die Mutter ihren weiten Pullover über den Säugling und trug ihn so geschützt durch den Regen zu einem Zirkuswagen. Dort verstauten die Schauspieler eines Laientheaters, das soeben noch auf einer inmitten der Wiese errichteten Bühne geprobt hatte, gerade ihre Requisiten unter einer Zeltplane. Ein junger Mann in Pluderhosen und mittelalterlichem Wams stand gelassen in einiger Entfernung des Wagens und lehnte, versonnen blickend, einen langen Stab gegen seine Schulter. Doch schließlich hüpfte auch er mit leichtfüßigen Sätzen zu den anderen Schauspielern zurück. Alle verschwanden in dem Wagen.
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