- "Nein", sagte Marie, "er hat ihr meines Wissens nach nichts über die Freundschaft mit Goldberg erzählt; und das Tagebuch fiel ihr erst nach seinem Verschwinden in die Hände."
- "Wie verlief die Reise der beiden weiter?" fragte Carla.
"Zunächst einmal nach Edinburgh, wo sie in einem Villenvorort einen Freund besuchten, der dort seine Ferien verbrachte. Es folgten erholsame Tage, endlich schlugen sie sich wieder einmal den Bauch voll, schliefen in einem festen Bett, konnten duschen. Obwohl sie unangemeldet erschienen waren, wurden sie von der schottischen Gastfamilie ihres Freundes aufgenommen wie alte Bekannte und für alle vergangenen Strapazen entschädigt. Sie fühlten sich sofort wie zu Hause. Noch am Abend ihrer Ankunft nahmen die Töchter ihrer Gastgeber sie mit zu einer Strandparty. Vater hielt im Tagebuch fest, dass er etwas einsam abseits der anderen stand, die zu Gitarrenmusik am Lagerfeuer tanzten, und das Wunder des Nordlichts beobachtete, denn auf der anderen Seite der Bucht leuchtete ein heller Streifen am Horizont auch in der Nacht fort. Nicht nur die Nähe einiger attraktiver Mädchen, sondern auch eine Entzündung der Achillessehne, die er sich wohl bei einem Marsch in Irland zugezogen hatte und die nach der kalten Zeltnacht nun ausgebrochen war, bereitete ihm Sorgen. Drei Tage blieben sie offenbar bei der Familie, die er eingehend charakterisiert. Der Vater muss der Typ des zerstreuten Professors gewesen sein, ein Botaniker, der wochenlang auf der Suche nach seltenen Moosen und Flechten das schottische Hochland durchstreifen konnte, die Mutter war Grundschullehrerin, von der rau-herzlichen Art, im Kontrast und als gute Ergänzung zu ihrem Mann durch und durch praktisch gesinnt, die Töchter, beide in Oxford studierend, keine Schönheiten, aber Mädchen zum Pferdestehlen, wie Vater schreibt. Nach diesem Intermezzo brachte sie ein Nachtzug nach London. Am Morgen in London ging es gleich weiter nach Dover und über den Kanal, und am späten Abend waren sie in Paris, wo sie den Bahnhof wechselten und kurz nach Mitternacht Richtung Bordeaux weiterreisten. Der nächste Tag sieht sie in einem Nest zwischen Bordeaux und Biarritz, wo sie übermüdet von einer Nacht auf dem Gang des überfüllten Zuges, in einem Café sitzen und nicht wissen wie es weiter gehen soll: gleich nach Italien oder erst nach Portugal. Sie entscheiden sich für Portugal. Wieder eine Nacht im Zug und am Nachmittag des folgenden Tages schlafen sie auf einer Wiese in einem Madrider Park. Immerhin bleiben sie einen Tag in Madrid und schauen sich den Prado an. Schließlich erreichen sie Lissabon." Marie besann sich einen Augenblick, und Carla nutzte die Unterbrechung, um zum Telefon an der Bar zu gehen, denn sie wollte in der Agentur nachfragen, wann sie denn am nächsten Tag zum Dienst erscheinen solle. Jacques, der für die Organisation der Boten zuständig war, hielt sie auf; er breitete haarklein den Kummer, den er mit der diplomatischen, konfliktscheuen Indifferenz ihres Chefs hatte vor ihr aus und aus Gutmütigkeit hörte sie sich das alles zum erneuten Mal an. Inzwischen schaute Marie dem Aufklaren des Himmels zu und erinnerte sich an Lissabon, wo sie eines Nachmittags auf einer Mauer des Castello sitzt und die Stadt, das Strohmeer und die Tejomündung mit der großen Brücke vor ihr in der windigen, klaren Luft liegen. Das Licht gleißt und blitzt über den Dächern und die Farben leuchten. Sie lauscht dem Klang eines der seltsamen Blasinstrumente der australischen Ureinwohner, das ein junger Tourist in ihrer Nähe spielt. Ein Reisegefährte begleitet ihn dazu auf der Gitarre. Der Klang des krummen Horns vibriert über dem Stimmengewirr der anderen Touristen, die sich ausruhen, schauen, etwas essen oder trinken. Die Mitglieder einer italienischen Reisegruppe diskutieren aufgeregt - doch selbst ihr Palaver ist wie gedämpft vom Licht, von der Weite im Umkreis. Die wunderlichen Töne aus dem ausgehöhlten Holz und die Stille, die dort oben vom Treiben der mit allen Fernen verbundenen Stadt übrig geblieben ist, versetzen sie in eine träumerische Stimmung. Ein schwarzer Junge steht in ihrer Nähe, an die Brüstungsmauer gelehnt. Obwohl es ein warmer Frühlingstag ist, trägt er eine bunt gestreifte Woll-Pudelmütze auf dem Kopf; er hat die Arme auf der Brust verschränkt. Seine Kameraden - er gehört offenbar zu einer französischen Schulklasse - springen in der Festung umher. Der Junge sieht nachdenklich aus, doch nicht traurig. Irgendetwas fasziniert sie an seiner Erscheinung und Marie spricht ihn an, lehnt sich neben ihn, fragt ihn, woher er komme. Aus Marseille gibt er zur Antwort, also aus einer anderen Hafenstadt. Auf ihre Frage, ob sie nur Lissabon oder auch andere Gegenden von Portugal kennen lernen würden, antwortet er, sie seien bis gestern in Sagres gewesen und zuvor auch in Lagos. Sagres habe ihn sehr beeindruckt, vor allem ein Museum über "Heinrich den Seefahrer", der dort im 15. Jahrhundert eine Akademie für Forscher und Entdeckungsreisende gegründet habe. Stolz präsentiert er ihr sein frisches Wissen.
- "Hier, wollen Sie mal sehen", ruft er, setzt seinen Rucksack ab und kramt ein Buch heraus. Er habe es sich dort im Museum gekauft. Es sei ein Buch über Heinrich und die Schule von Sagres. Sie blättert ein wenig in dem kleinen Band, wobei der Junge mehrmals zwischen die Seiten greift, um sie auf diese und jene Abbildung aufmerksam zu machen. Als sie es schon zuklappt und ihm gerade wieder zurückreichen will, springt ihr der Name des Verfassers in die Augen, der ihr bisher nicht aufgefallen war, da er recht klein gedruckt über dem Titel steht.
Carla schüttelte ungläubig den Kopf, als ihr Marie diese Episode später erzählte. - "Doch, doch", sagte Marie, "der Name des Autors war John Marr."
- "Der Name ist nicht so selten, " sagte Carla.
"Das Buch war in einem Lissabonner Verlag erschienen, der heute nicht mehr existiert. Es war in englischer Sprache verfasst." - Marie schwieg einen Augenblick. - "Ich hatte eine Spur. Zum ersten Mal. Er hatte also nach seinem Verschwinden in Portugal gelebt. Ich weiß noch, dass ich sehr lange in einem schattigen Café hoch über den Dächern der Alfama saß und mir die Sache durch den Kopf gehen ließ. Ich schaute durch die Stäbe eines Geländers in die Ferne. Die Weite des Raums und die Monumente, die ihn waghalsig zu bewältigen suchten, erinnerten mich an Amerika: die über die Hafeneinfahrt gespannte Brücke oder die weiße Christusstatue auf den jenseitigen Hügeln. Ein altes Segelschiff, ein großer Dreimaster aus dem 19. Jahrhundert, lag im Hafen. Seine Takelage schien über den rotbraunen Dächern die Fernsehantennen fortzuspinnen. Dieses Panorama versetzte mich in eine andere Zeit, machte mich zur Hauptdarstellerin in einem Piraten- oder Abenteuerfilm. Die großen Wolkenschatten auf der in der Sonne tatsächlich strohfarbenen Bucht waren längliche, langsam treibende dunkle Formen, so als würde dort knapp unter der Wasserfläche eine Herde von Walen schwimmen. War er vielleicht gar noch in Lissabon; wäre er unter einem dieser unzähligen Dächer, in diesem gebauten Labyrinth der Jahrhunderte aufzuspüren? Am Abend des nächsten Tages war ich in Sagres", sagte Marie, schlug das Tagebuch auf und las eine weitere Passage vor:
"Der Bus, der uns hierher gebracht hat, hielt an einer Kreuzung etwas außerhalb von Sagres, dessen flache, weiße Häuser hinter uns lagen. Vor uns erstreckte sich ein baumloses Plateau, von einer schnurgeraden Straße und einem staubigen Weg durchschnitten. Nichts als Steine, hartes, trockenes Gras, Moose, Flechten, einige kahle, wie versteinerte Sträucher. Die Straße endete westwärts an einem Leuchtturm, wo das Plateau in steilen Klippen zum Meer hin abstürzt. Der Weg mündete in das Tor eines näher gelegenen, mächtigen Forts mit weißen Mauern und Ecktürmen. Das Kap hier galt in der Antike als der Ort, wo die Götter nachts von ihrer Arbeit und ihren Reisen ausruhen. Heiliges Vorgebirge nannten es die Griechen und Römer. Dort endete in ihren Augen die Welt. Weiter hinaus, hinter diesem undurchsichtigen Schleier, denn die immer starken Winde lassen meist einen Dunst entstehen, der den Horizont verhüllt, weiter hinaus, so dachten sie, stieß man auf den Rand der Erde, das Nichts, das jedes dorthin entsandte Schiff verschlingen würde."
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