Das Gespräch verläuft frustrierend, denn keiner kann mir neue Hinweise liefern. Jeder ist zutiefst bestürzt über den viel zu frühen Tod der geliebten Tochter und Schwester.
»Darf ich mich mal in ihrem Zimmer umsehen?«, frage ich vorsichtig, als der Vater sich einen gebrannten Seelentrunk gönnt. Er wedelt mit dem Arm, um mir Erlaubnis zu erteilen, was ich nicht bräuchte, denn ich habe von Gericht und Staatsanwaltschaft alle Freiheiten, und Gefahr ist in Verzug – in Form des Mörders. Ich wollte nur höflich sein. Im Zweifel wird der Durchsuchungsbeschluss nachgereicht.
Einer ihrer Brüder begleitet mich in den Keller, wo sich neben Waschmaschinen und Putzmittellager ein unscheinbares, fensterloses Kinderzimmer versteckt.
War Lotte depressiv? In dem dunklen Raum könnte man den Ursprung dafür sehen. Selbst mit Licht wirkt ihr Domizil wie ein kleiner Kerker, mit schmalem Bett, kleinem Schreibtisch und zwei Schränken, die sich gegenüber stehen und den Durchgang verengen. Man fühlt sich wie in einem U-Boot.
Poster eines Popsängers zieren die klaustrophobischen Wände und Schränke. Ich kenne den Kerl nicht, aber auf manchen Postern trällert er in ein Mikrofon, also denke ich, dass es ein Sänger ist. Lotte schien vernarrt in ihn zu sein. Fast alle Flächen sind mit seinem schnulzigen Konterfeit zugekleistert. Herzchen, Autogramme, Fanartikel überall. Selbst die Bettwäsche stammt aus der Merchandising-Maschinerie. Sie schlief auf seinem Gesicht und hüllte sich ein in seinen futuristisch gekleideten Körper, mit Glitzer-Lack-Outfit und pyramidenartigen Schulterpolstern. Er wirkt wie ein femininer Junge, mit den schwarz geschminkten Augen, den gegelten Haaren, dem glattrasierten Kiefer, den Ohrringen, Kettchen und Armbändern. Eine sonderbare Kreation gewiefter Produzenten.
»Wer ist das?«, frage ich nach.
»Leander Möwe«, antwortet der Bruder, der an der Tür warten muss, sonst würden wir uns auf den Füßen stehen.
Leander Möwe. Das steht auch auf einigen Postern, doch ich brauchte die Verifizierung.
»Ein Sänger?«
Er nickt. »Schlagersänger.«
Eine Augenbraue hebt sich. »Der ist doch noch keine 18, oder?«
Schulterzucken. »Keine Ahnung. Irgendein Grünschnabel, der Mädels und Schwiegermüttern den Kopf verdreht. Ich kann mit dem nichts anfangen.«
Über ihrem Schreibtisch hängen dutzende Konzertkarten.
»Sie reist ihm nach«, zeigt der Bruder darauf, als ich mir die Tickets ansehe. »Ein Groupie.«
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, bereite ich den ältesten Bruder auf unangenehme Dinge vor.
»Nur zu.«
»Hatte Lotte einen Freund?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Noch nie?«
»Nein.« Er deutet auf den Sänger. »Das ist ihr Freund. Kein Platz für andere Männer.«
»Wissen Sie, ob Lotte noch Jungfrau war?«
Er schaut mich entrüstet an. »Was soll der Scheiß?«
»Es tut mir leid, aber ich muss das wissen.«
»Und ich will das nicht wissen!«
Ich stöbere durch ihren Schreibtisch und ihre Schränke. Etwas chaotisch. Trotzdem keine Hinweise auf einen fragwürdigen Kontakt.
Die Luft ist stickig, aufgeladen. Ich muss meine nächsten Worte weise wählen.
»Wem hat sie sich anvertraut?«
»Was soll das heißen?«
»Mädchen ticken anders«, versuche ich einen Umweg. »Hatte Lotte einen Draht zu ihrer, Ihrer Mutter?«
Er atmet schwer aus, verzieht das Gesicht, schaut zur Seite. »Mutter arbeitet viel. Da bleibt nicht viel Zeit für die Familie.«
»Der Vater?«
Sein Lachen wirkt verkrampft. »Mit dem kann man nicht viel anfangen.«
»Ich gehe davon aus, dass sie sich auch nicht ihren Brüdern anvertraut hat.«
Er rümpft die Nase. »Meinen Sie Mädchenkram?«
Ich nicke. »Monatsblutungen. Regelschmerzen. Schwärmereien.«
Als wolle er davon nichts hören, dreht er sich weg. »Nope!«
»Sie wissen, dass Ihre Schwester ermordet wurde?« Meine direkte Frage richtet sich an seine unnahbare Art.
»Ja«, zieht er lang, ohne die Miene zu verändern.
»Gab es Differenzen innerhalb der Familie? Seien Sie ehrlich. Ich bekomme es eh heraus.«
Der Bruder ziert sich.
»Sie sind wahrscheinlich der Thronfolger, gehe ich richtig in der Annahme?«
Er nickt abwartend.
»Dann übernehmen Sie das Hotel?«
»Den Scherbenhaufen?«, sagt er kritisch.
»Sind Sie mit der Führung durch Ihre Eltern unzufrieden?«
»Was wird das hier?«, fragt er argwöhnisch. Seine Augen ziehen sich zusammen. Seinen Kopf senkt er zu Verteidigungszwecken.
Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu. »Ich will Sie als Tatverdächtigen ausschließen. Aber wenn es Streitigkeiten zwischen Ihnen, ihren Eltern und Lotte gab, brauche ich dafür gute Informationen und ein Alibi.«
»Ich war die ganze Nacht hier im Hotel«, wehrt er sich. »Das können Ihnen meine Brüder, meine Eltern und unsere Mitarbeiter bestätigen. Außerdem bin ich Lottes Bruder!«
»Aha«, ich notiere zum Schein etwas in mein Notizbuch, was er alarmiert zur Kenntnis nimmt, den Inhalt – eine hypnotische Spirale – allerdings nicht sieht.
»Ja, ich gebe es zu. Meine Eltern wirtschaften das Hotel zu Grunde. Darüber gibt es immer mal wieder Meinungsverschiedenheiten. Aber Lotte hat mit alledem nichts am Hut. Sie verkrümelt sich in ihr Zimmer und schmachtet diesen Grünschnabel an.«
»Ist sie nicht gerade erst in den Familienbetrieb eingestiegen?«
»Schon, aber nur online. Sie betreut die Webseite und bearbeitet Reservierungen. Sie will gar nicht in die Leitung aufsteigen. Dafür fehlt ihr der Unternehmergeist. Sie ist eine Träumerin.«
»Inwiefern?«
»Sie will lieber reisen als hier zu versauern.«
»Sagte sie das?«
»Sehr oft. Doch sie will uns nicht im Stich lassen, also hilft sie, wo sie kann.«
»Deshalb der Fankult?«, nicke ich zu den Postern. »Damit sie wenigstens etwas von der weiten Welt hat.«
»Denkbar. Keine Ahnung. Wir haben nicht viel miteinander zu tun.«
»Ihre Schwester«, erinnere ich.
»Ja, schon, aber ich kümmere mich darum, dass wir hier nicht absaufen, und sie träumt sich durch den Tag. Gegessen wird nicht mehr gemeinsam und die Arbeit unterbindet Familiensachen. Wir laufen uns über den Weg, aber viel zu erzählen haben wir uns nicht. Sie macht ihr Ding, ich mach meins.«
Aus meiner Kehle dringt ein nachdenklicher Laut. »Wissen Sie wenigstens, wer ihre engsten Freunde waren?«
»Neele.«
»Die haben wir schon auf dem Schirm. Und weiter?«
»Nichts und weiter . Nur Neele.«
»Und aus der Schule?«
Sein Mund formt eine negative Wölbung. »Niemanden, den ich kenne oder gesehen habe. Lotte ist ein schüchternes Mädchen. Sie braucht nicht viele Freunde.«
Vorhin, oben mit dem Vater und dem anderen Bruder war er nicht so redselig. Offenbar war es ein gelungener Schachzug, ihn zu separieren und in den Keller zu lotsen.
»Also war Neele ihre einzige und beste Freundin?«
»Kann man so sagen«, bestätigt er vage.
»War sie oft hier?«
»Neele? Nee. Der wird übel, wenn sie eine Fähre besteigt.«
»Woher wissen Sie das?«
Er schaut mich ernst an. »Wir waren mal zusammen.«
Ich mustere ihn. Der Altersunterschied ist gravierend, mindestens zehn Jahre. Er war schon volljährig, als er die immer noch minderjährige Neele traf.
»Keine Sorge«, hebt er abwehrend die Arme. »Es ist nichts passiert. Wir haben uns gut verstanden, sind ins Kino gegangen und haben viel telefoniert. Kein Sex, oder so. Ich weiß, dass ich mich auf dünnem Eis bewegte, deshalb gab es auch keinen Sex. Ihre Eltern hatten mich sowieso genau im Blick. Die wählten schon die Nummer vom Staatsanwalt, wenn wir nur Händchen hielten.«
»Lassen Sie mich raten: über Sie hat Lotte Neele kennengelernt?«
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